1. Kapitel
Sei mir gnädig, GOTT, sei mir gnädig! Denn auf dich traut meine Seele, und unter dem Schatten deiner Flügel habe ich Zuflucht, bis das Unglück vorübergehe ...
„Er erzählte dir nicht die ganze Wahrheit.“ „Du meinst, er hat mich belogen?“ Der junge Bernardo legt irritiert seine Stirn in Falten. „Nein, du wirst lernen, dass viele Dinge im Leben von deinem
ganz persönlichen Standpunkt abhängen und ich kann verstehen, warum er nicht die ganze Wahrheit erzählt, und deshalb ist er für mich kein Lügner“. Bruder Jacob belegt den jungen Novizen mit einem
liebevoll väterlichen Blick. „Aber, das kann nur jemand behaupten, der die Geschichte eben kennt, nicht wahr?“ Trotz der Kümmernisse der letzten Tage schaut Bernardo den Alten jetzt triumphierend an
und schiebt hinterher: „Also ist er von meinem Standpunkt her gesehen ein Lügner oder zumindest einer, der nicht die ganze Wahrheit erzählt, und wie kann ich jemanden Meister nennen, der mir sein
Wissen nur verschwommen darlegt. Muss ich dann nicht immer an seinen Kenntnissen, die er mir vermitteln will, zweifeln?“ Der Alte zieht erstaunt seine Stirn in Falten. „Du hast schon viel gelernt,
aber nicht genug, denn Theorie und Praxis haben auch bei Mönchen nicht immer etwas miteinander zu tun, denn trotz großen Wissens muss jeder Mensch aus seinen eigenen Erfahrungen lernen, um zur
Weisheit zu gelangen...“
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„Du schweifst ab“. „Nein, Bernardo! Die Geschichte deines Meisters ist nur so ungewöhnlich, dass sie ihresgleichen sucht.“ „Es muss eine sehr traurige Geschichte
sein, denn in den letzten Tagen scheint er sehr verbittert. Kein Gefühl zeigt er. »Verbranntes Fleisch« war sein einziger Kommentar auf die Gefangennahme unserer Mitschwester. Die Gefangene ist
verbranntes Fleisch. Niemand wird sie vor der Inquisition retten können, auch wenn Gott ihre Wahrheit mit einem Heiligenschein bestätigen würde, sie ist verbranntes Fleisch.“ Keiner der beiden merkt,
vertieft in ihr Gespräch, dass die Tür langsam aufgegangen ist. Eine hünenhafte Gestalt erscheint im Türrahmen und in dem Schweigen, das nach den letzten Worten des Novizen Bernados entstanden ist,
erhebt sich nun die tiefe klare Stimme Williams:„ Du hast vielleicht Recht, Bernado, ich schulde dir meine Geschichte, doch mir kommen Zweifel, ob du sie richtig erfassen und nachvollziehen kannst,
denn es fällt mir selber schwer, das Geschehene zu begreifen. Es lässt sich mit Logik nicht erklären, noch gibt es einen mir bekannten Vergleich. Manches Mal erscheint es mir, als wenn es nicht von
dieser Welt war,- sie nicht von dieser Welt war.-“ Hier bricht er mitten im Satz ab; als hätte er den Faden verloren, schaut er sich Hilfe suchend nach seinem alten Lehrer Jacob um. Dieser nickt
bestätigend:„Wir sollten anfangen es zu erzählen, vom Anbeginn eurer Geschichte. Eigentlich ein recht harmloser Anfang, wenn man bedenkt, wie spektakulär der Verlauf heute ist. Wenn du das vorher
hättest abschätzen können, worauf du dich da einlässt, wäre dir viel Gram und Ärger erspart geblieben, nicht wahr William ?“ Herausfordernd treffen sich ihre Blicke. Das Gesicht des Schotten
verdunkelt sich wie der Himmel wenn ein Gewitter aufzieht. Seine sonst so strahlenden blauen Augen bekommen das Grau stürmischer Wolken und seine Brauen ziehen sich zusammen und stechen in die des
Alten. Seine Stimme wird sehr leise und eine Spur zu ruhig, so dass die Spannung, die plötzlich in der Luft liegt, förmlich zu fassen ist. „Ich werde mit ziemlicher Sicherheit nicht anfangen mit dir
darüber zu debattieren, alter Mann. Du solltest vorsichtiger sein mit dem, was du von dir gibst, Bruder. Man könnte sonst deinen Missmut, den du schon immer gegen uns gehegt hast, merken. Und du
willst doch uns nicht glauben lassen, dass du ihr Ansehen besudeln willst.“ Und mit einem verächtlichen Blick zur Tür hin sagt er :„Diese Arbeit haben schon andere übernommen, dessen Hände sind
schon....“ mit diesen Worten sieht er Bruder Jacob wieder genau in die Augen „ ...schmutzig vom Ruß der Verbrannten.“ „Und du, William, solltest nicht so laut mit deiner zweischneidigen Zunge sein.
Denn der Verdacht, dass du ihr Mitbuhler warst, könnte leicht auf dich fallen, wenn die Wände hier Ohren haben.“ „Ohren haben nur jene, die auch bereit sind zu hören, und hast du solche? Mir scheint
es nicht so, denn sonst hättest du auch mehr Verstand und wüsstest genau, dass ich nicht ihr Mitbuhler gewesen, sondern ihr Mitbruder bin.“ „Halte ein, Bruder William, halt ein“. Beschwörend hält
Bruder Jacob jetzt seine Hände nach oben. „Ich wollte dich nicht verletzen. Ich will dir doch nur ein Freund sein, der dir hilft, mit deiner jetzigen Wut fertig zu werden, ohne dass du dich unnötig
in Gefahr begibst, und du weißt genau, dass ich nur dagegen war, weil ich euch beide nicht bedroht sehen wollte. Keiner weiß besser als ich, dass es keine reinere und höhere Liebe gab als die eure,
so innig und so schön, dass es fast weh tat es mit anzusehen, und niemand, der böse Gedanken hat, hätte eine Sünde darin erahnt. Doch du weißt auch nur zu gut, dass das Böse so vielschichtig ist,
dass es zuweilen auch die frömmsten Menschen erreicht, und so traurig es auch erscheinen mag, die Tatsache ist doch die, dass leider gerade in der heutigen Zeit die Kirche schlimmer davon befallen
ist denn je. Doch bedenke :In dubio pro reo.“ William, der sich in der Zwischenzeit auf einen Holzschemel, der sich in einer Ecke des Zimmers befindet, gesetzt und sein Gesicht in die Hände gestützt
hat, um die Tränen der Verzweiflung vor den anderen zu verbergen, erhebt seinen Kopf und auch seine jetzt bebende Stimme. „In dubio pro reo? Die Zeiten sind ein für allemal vorbei. Quidquid id est,
fiat voluntas nostra !“ „Unsere geheiligte Kirche wird Zweifel an einem Angeklagten niemals zulassen. Die Zeit arbeitet gegen sie. Die Inquisition hat viel zu sehr Angst, ihre Glaubwürdigkeit zu
verlieren, denn der Stuhl des Papstes steht auf Sand....“ Die Diskussion wird von der großen Kirchturmglocke unterbrochen. „Es ist Zeit für die Vesper,“ sagt William und steht mühsam auf . Er scheint
um Jahre gealtert, als die untergehende Sonne mit ihren Strahlen, die durch das Fenster der kleinen Bibliothek des Klosters fallen ihm die Schatten vom Gesicht nimmt. Aber die Schatten in 1 Im
Zweifel für den Angeklagten? Was auch immer, unser Wille geschehe! seinen Augen vermag auch das Sonnenlicht nicht zu erhellen. Schweigend gehen die drei zur Tür. Im Gang herrscht schon die Finsternis
vor und ihre Augen müssen sich erst an die Dunkelheit gewöhnen. Ein Schatten huscht um die Ecke und erschreckt von dem Fremden zucken sie zusammen. Eine böse Vorahnung verdoppelt noch die zahlreichen
Falten auf dem Gesicht von Bruder Jacob, denn sollte ihr Gespräch zusätzliche fremde Ohren gehabt haben, würde sich die Gefahr auch auf den jungen Novizen und ihn ausbreiten. Der fremde Schatten
kommt erneut um die Ecke. Er trägt eine Fackel in der Hand und entzündet damit routinemäßig die an der Wand befestigten Fackeln. „Wir müssen uns beeilen, Brüder, der Abendgottesdienst wird gleich
beginnen“, Bruder Jacob versucht so ungezwungen wie möglich zu klingen, da der fremde Mönch sich jetzt in ihrer Nähe befindet. Bruder William wirft einen kurzen Blick hinter sich und sagt, bemüht, in
den Ton einzufallen:„Ja, du hast Recht, die Bücher, die wir gemeinsam gelesen haben, werden unseren Freund hier...“ und dabei macht er eine Geste mit der Hand zu Bernardo, „ ....verwirrt haben. Er
benötigt jetzt die Entspannung und Beruhigung der Gebete.“ Mit schnellen Schritten erreichen sie die Tür und treten ins Freie. Bernardo zupft seinen Meister am Ärmel. „Was wirst du jetzt tun, wann
wird der öffentliche Prozess stattfinden und wessen beschuldigt man Schwester Franziska?“ „Fragen über Fragen, Bernardo. Nach der Vesper will ich zum Gericht gehen. Bruder Marcus versucht mir einen
Besuch bei Franziska zu ermöglichen, dort hoffe ich mehr zu erfahren. Doch wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen.“ „Mit dem Schlimmsten rechnen? Was meinst du damit?“ „Ich befürchte, dass die ersten
Verhöre bereits stattgefunden haben. Man wird bei diesem Prozess keine Zeit verlieren wollen. Das Volk braucht eine Hexenverbrennung, damit die die Kirche ihre Autorität wieder unter Beweis stellen
kann. Abschreckung ist immer die Verzweiflungstat jener, die nicht genügend stichhaltige Argumente haben. Wenn du willst, darfst du mich begleiten. Wir werden dort einen Raum finden um die Complet zu
feiern und sicherlich zur Schlafenszeit pünktlich wieder hier sein.“ „Meinst du, William, dass der Ort, den du aufsuchen wirst, ein günstiger Aufenthalt für einen so jungen Novizen ist?“ „Ich bin so
jung auch nicht mehr,“ wendet Bernardo auf die Frage Bruder Jacobs ein und wird von diesem mit einem prüfenden Blick bedacht. „Mach dir keine Sorgen, mein Freund. Natürlich wird er draußen warten.
Doch ich denke, ich bin ihm meine Geschichte schuldig. Und der Weg zum Kerker stellt eine gute Gelegenheit dar, mit der Erzählung zu beginnen.“ Der Alte bezieht auch William in seinen prüfenden Blick
mit ein, woraufhin dieser nur in seiner vertrauten Art antwortet: „Hab keine Angst, Bruder Jacob. Ich glaube, dass es nicht zu befürchten ist, dass fremde Ohren an unseren Kutten haften.“ In der
Kirche prallt den dreien schon die Ruhe bringende Stille der in Gebeten vertieften Mönche entgegen und leise schleichen sie auf ihre Plätze. Geübt geben sich William und Jacob der durchdringenden
Ruhe hin. Nur Bernardo, noch aufgewühlt von den Geschehnissen, fällt es schwer, die nötige Konzentration zu finden, und er atmet innerlich auf, als der Abt den Gottesdienst für beendet erklärt. Eilig
verabschiedet sich Bruder William von Jacob. Und auch hier fällt es Bernardo wieder schwer, seinem Meister zu folgen. „Wartet auf mich, Meister.“ „Willst du mir erzählen, dass alte erfahrene Beine
auch schneller laufen können als deine jungen?“.Liebevoll provozierend läßt William dabei eine Augenbraue tanzen. „Im Geiste sicherlich, denn sie wurden ja schon vom Geiste darauf vorbereitet. Ich
jedoch muss dir folgen und kann daher meine Beine erst in Gang setzen, wenn die deinen schon unterwegs sind. Es sei denn, du gibst vorher Bescheid.“ Und ein wenig stolz über seine pfiffige Antwort
setzt Bernardo hinzu, während er William einholt: „Aber es ist ja nur ein kurzer Vorsprung, den ich, wie du siehst, dank meiner jungen Beine schnell wieder eingeholt habe.“ „Warum jammerst du dann
und vertraust der Schnelligkeit deiner Jugend nicht? Und wenn du das nächste Mal deinem Geist ein wenig von der Schnelligkeit deiner Beine abgibst, würdest du vielleicht auch wissen, was als nächstes
auf dich zukommt, und bist besser darauf vorbereitet.“ Und das sanfte Lächeln, das Bernardo nun von seinem Meister empfängt, lässt seinen Stolz kleinlaut verschwinden. Mit schnellen Schritten lassen
sie das Kloster hinter sich und biegen in den Weg ein, der sie zur Stadt bringen wird. „Meister, was hast du?“ Mit diesen Worten umfasst Bernardo den Arm Williams zur Stütze, da dieser, als wenn
Krämpfe sich um sein Herz gelegt hätten, mit dem Oberkörper nach vorne zu fallen droht. „Mir war,..... als... ob jemand eine Eisenstange in mein Herz bohrt,..... doch es ist schon wieder gut, du
kannst mich loslassen, es war nichts, nichts, um das du dich sorgen musst, Bernardo. Doch Eile ist angezeigt, komm, lass uns weiter gehen.“ „Meister, gehen wir schnell, befürchte ich, du könntest mir
die Geschichte nicht ganz erzählen.“ „Hab keine Angst, mein Junge, ich erzähle schnell und selbst dann, würden wir langsam gehen und ich schnell erzählen, würde die Geschichte nicht zu Ende sein,
bevor wir nicht ein paar Dutzend mal den Weg zum Kerker hin und wieder zurück gegangen sind. Drum, festina lente Bernardo, festina lente “. Dabei zieht William seine Kapuze weit hinunter zur Stirn
und macht den Eindruck eines tief in sich Versunkenen. „Meister,“ sagt da Bernardo vorwurfsvoll, und ehe er weiterreden kann, bricht William in ein kurzes Gelächter aus. 2Eile mit Weile „Schon gut,
schon gut, also höre zu: Im Frühling anno Domini 1342 hörte ich mit einem Mal eine Stimme. „Bruder, - Franziskaner,- he da, warte bitte!“, und dann erhob sich ein fröhliches Lachen aus der Stille des
Morgens, die mich umgab. Seit der Laudes war ich wieder unterwegs in Richtung Köln am Niederrhein. Ich sollte dort die Benediktinerabtei St. Nikolaus besuchen. Im Jahre 970 hatte dort Bruno, ein
recht frommer Mann, zu Ehren des heiligen Medardus eine kleine Holzkirche erbauen lassen. Und schon 980 entstand dort die erste steinerne Kirche.“ „Meister, ist das wirklich wichtig für die
Geschichte?“ „Nun ja, wie dem auch sei, bis dahin war ich keiner Menschenseele begegnet. Ich erschrak förmlich, als ich dieses hüpfende Bündel von weitem auf mich zukommen sah. Erst war nicht recht
zu erkennen, wer oder was da eifrig winkend näher kam, doch dann erkannte ich eine Ordensschwester. Die Unförmigkeit ihrer Gestalt stellte sich als eine in der Farbe ihrer Kutte riesenhafte Tasche
dar, die sie mit einem Riemen quer über Schulter und Leib gebunden hatte. Munter und aufgeregt redete sie auf mich ein, und da ich noch verwirrt, in meiner Meditation völlig gestört war, verstand ich
kein einziges Wort. Ich musste mich sammeln! Als dieses wie Glocken klingende Lachen wieder ertönte und sie mich fragend mit schief gelegtem Kopf anschaute, war mir, als würde ich von einem warmen
Ofen erfasst in dieser kalten Jahreszeit. Ich musste unwillkürlich in dieses Lachen mit einfallen. So etwas war mir in meinem ganzen Leben noch nicht begegnet, Bernardo. Die Wärme, die sie
ausstrahlte, reichte für alle gewesenen und alle noch kommenden Wintertage. „Franziskaner“, sagte sie,....mir ist, als ob ihre Stimme noch in meinen Ohren widerhallen würde:„Sag , willst du mich
nicht begleiten und ich begleite dich ein Stück. Zu zweit geht es sich leichter und schneller“. „Du meinst, damit wir uns gegenseitig tragen können?“ „Ja“, lachte sie, „in unseren Gedanken. Die
Konzentration auf wunde Fü.e wird auf die Konzentration fröhlicher Geschichten umgeleitet.“ „Ich hatte meinerseits alleine noch keine Schwierigkeiten mit wunden Fü.en, da meine Konzentration sich
mehr auf heile Gedanken beschränkt.“ „Oh, da haben wir es. Beschränkt.“ „Bitte?“ „Damit hast du dich selber beschränkt“. Sie schaute in seine Augen und bemerkte eine gekränkte Verständnislosigkeit
und erklärte jedoch dann mit einem gewinnenden Lächeln: „ Oh, mein Bruder, das war keine Beleidigung, will sagen, eingeschränkt, und damit hast du einen Widerspruch an sich geschaffen. Das Heil ist
die Vereinigung, die keine Beschränkung zulässt. Daher kann eine Beschränkung nicht zum Heil führen. Also waren entweder deine Gedanken beschränkt oder sie waren heil. Und waren sie heil, müssen
heitere, trübe, heilige und böse Gedanken dich beschäftigt haben.“ „Du scheinst nicht gerade aus einem unwissenden Kloster zu stammen.“ „Besser gesagt, ich hatte kluge Lehrmeister, die von meinem
Vater bis hin zu Aristoteles und wieder zurück zu meiner Amme, meinen Mitschwestern und unserer Äbtissin, den Tieren, Pflanzen und den Witterungsumständen unseres Landes reichen. Ich glaube, der
liebe Gott meint, ich müsste noch viel lernen, bevor ich die wahre Erleuchtung finden kann. Deswegen schickte er mich wohl auch auf die Reise, auf meine Reise.“ Den letzten Satz sagte Franziska mehr
zu sich selber und eine leise neue Erkenntnis klang im Ton ihrer Stimme mit. „Meister, du träumst mit offenen Augen. Nun erzähl doch weiter, bitte.“ Bernardos Stimme holt William wieder in die
Gegenwart zurück und ein wenig erstaunt über sich selbst zieht er seine Stirn in Falten. „Ja, mein kleiner Freund, du hast Recht, ich träumte von unserer Schwester. Mit einem Mal sah ich sie ganz
klar vor mir, sie und die vergangene Situation unserer ersten Begegnung“. William reibt sich die Augen, als könne er damit die Erinnerungen fortwischen, die ihn so realistisch übermannten, dann
spricht er weiter: „Ich war natürlich sehr verwundert darüber, dass eine Ordensfrau alleine, von ihrem Orden getrennt, durch die Lande zog, doch das beeindruckte sie wenig.“ „Ja, das passt zu
Schwester Franziska, wahrscheinlich lachte sie über deine Verwunderung und erzählte dir von den Wegen Gottes und philosophierte über das Schicksal.“ „Und genauso war es, Bernardo,... genauso war es.
Was mein Erstaunen über diese Frau nur noch wachsen ließ. Im Verlauf des Tages kam ich dann dahinter, dass sie sich auf Pilgerfahrt nach Rom befand und bei einem Überfall durch eine wilde Horde von
Vogelfreien von ihrer Pilgergruppe getrennt worden war. Die folgenden Tage sollten dann zu den erbaulichsten Tagen meines Lebens zählen“, und bei der Erinnerung schmunzelt William vor sich hin.
„Philosophen unter sich. Ich muss dir gestehen, Bernardo, dass es mir schwer fällt, die richtigen Worte zu finden, um dir zu beschreiben, wie es war..... Zwei Seelen verschmolzen zu einer, ja, ich
glaube, das trifft es am besten. Mir schien es zuweilen, als wenn Gott den einen Teil meiner Gedanken zu Fleisch hat werden lassen, wir diskutierten und philosophierten, tauschten Erfahrungen über
Kräuter und Blumen, beteten gemeinsam, wir waren eins und doch getrennt.“ „Aber, Meister, habt ihr da nicht gesündigt? Es ist uns Mönchen doch gar nicht erlaubt eine so enge Beziehung zu Frauen zu
haben, und wenn mich nicht alles sehr täuscht, dürfen Nonnen schon gar nicht in einer solchen Beziehung zu Männern oder gar Mönchen stehen.“ „Augenscheinlich steht die Todsünde über unseren Köpfen,
Bernardo, denn sie sündigen tödlich, wenn sie mit einem Laien sündigen, tödlicher aber, wenn mit einem ordinierten Kleriker, am meisten aber, wenn mit einem weltabgeschiedenen Mönch. Humbert von
Romans, über die Predigten zu den Weibern, Kapitel 2 Ad mulieres pauperes in villulis“ und mit diesen Worten grinst William breit über sein Gesicht zu Bernardo hinüber. Dieser erschrickt und mit
Entsetzen in der Stimme lässt er seinen Unmut über das ungehörige Benehmen seines Meisters laut werden. „Meister, zuweilen scheint mir, du kannst nicht den nötigen Ernst für diese Situation
aufbringen. Du lästerst Gott und der heilige Kirche.... Du machst mir Angst.“ „Nein, Bernardo, halte ein. Ich lästere weder Gott noch der Kirche. Ich will dir nur klar machen, dass nicht die
geringste Sünde zwischen uns lag. Du sollst erkennen, dass zuweilen die Begrenztheit unserer Sprache die Dinge zur Sünde herab degradiert, da es für die Beziehung zwischen Franziska und mir noch
keine Worte gibt oder eben die Worte, mit denen ich versuche es zu erklären, angehaucht von der Sünde, nur mit Sünde in Verbindung gebracht werden. Du musst versuchen, die Worte, die ich finde, in
ihrem wahren Sinn zu verstehen, unsere Seelen verschmolzen zu einer. Sicherlich kommt dir meine Rede so vor, als würde ich versuchen, es für mich zurechtzudrehen und aus einer Sünde eine Tugend zu
machen. Ich kann nur immerzu an dich appellieren, bitte, glaube mir. Ich bin auch sicherlich nicht das gute Vorbild, das ich in den Augen der heiligen Kirche für dich sein sollte, aber vielleicht
lernst du daraus, nicht alle Dinge so hinzunehmen, wie sie scheinen. Oft genug habe ich mich in den nachfolgenden Tagen in Frage gestellt und wollte diese Verschmelzung nicht wahr haben, glaubte
zuweilen gar, dass Franziska mich als Versuchung des Teufels heimgesucht hatte, doch ich bin verbunden mit ihr und keine Inquisition der Welt kann mir eine Sünde einreden, denn wir haben keine
begangen. ....Unsere Liebe ist planta Dei pullulans in radice und wer Ohren hat zu hören, der höre.“ „Dann... sprichst du, wie Jesus, in Metaphern.“ Freudig glaubt Bernardo seinen Meister verstanden
zu haben. „Bernardo..... .“ William atmet tief durch. „Hat Jesus etwa in Metaphern gesprochen als er sagte: „ GOTTES Erbarmen ist unendlich und seine Liebe währet ewiglich?“ „Hm,... nein,
wahrscheinlich nicht, Meister.... aber zuweilen sprichst du eine mir fremde Sprache.“ Verzweifelt über seine Verwirrung zieht Bernardo seine Stirn in Falten. „Eines Tages, Bernardo, wirst du diese
Sprache verstehen.“ Ein väterliches Lächeln löst in Bernardos Herz ein wenig die Irritierung und William fährt fort. „Nach unserer Trennung, einige Tage später...“ „Warum habt ihr euch getrennt?“
„Die Zeit war gekommen, da wir andere Wege gehen mussten. Ich kam an meinem Bestimmungsort der Benediktinerabtei St. Nikolaus in Braunweiler an und ihr Weg führte sie weiter nach Rom. Mir schien es,
als wären wir ewige Zeiten zusammen gewesen, als wären wir schon vom Anbeginn unserer Geburt Bruder und Schwester gewesen, doch wurden die Tage mit tiefer Trauer beschattet, als sie ging. Es war
nicht so, dass sie nicht mehr da war, sie ist seit jener Zeit immer bei mir, wie sie auch jetzt bei mir ist, es war auch nicht die Angst, sie nicht wiederzusehen, es war eher die Angst vor dem
Eingeständnis, dass das, was passierte, Wirklichkeit war und kein Traum und dann die Frage, die mich unentwegt begleitete, wie sollte ich damit umgehen, denn mir war schon klar, dass, würde ich
jemals mit einer Menschenseele darüber reden, man mich eben als den sündigen Ketzer darstellen würde, und glaube mir, Seelenqualen habe ich dabei genug empfunden...“ William unterbricht seinen
Bericht, neugierig gemacht auf die Gestalt, die ihnen da aus einiger Entfernung aufgeregt entgegen winkt. „Bernardo, erkennst du den Bruder, der da auf uns zu kommt?“ Seine Stimme wird beeinflusst
von einer bösen Vorahnung, die ihn beschleicht. Da ist der Bruder auch schon nahe genug herangekommen, dass Bruder William Marcus in ihm erkennt. „Bernardo, es ist Bruder Marcus, ein schlechtes
Zeichen.“ „Pace e bene, Bruder William.“ „Pace e bene, Bruder Marcus, ich befürchte, du eilst mit schlechten Nachrichten.“ „Ja, leider muss ich dir berichten, Bruder, dass ich für heute kein Treffen
mit Franziska arrangieren konnte. Der ehrwürdige Bischof hat sich ihrer angenommen, um ihr ins Gewissen zu reden und ihre Seele zu retten.“ „Was für ein famoser Mann,“ murmelt da William. Der Ruf des
Bischofs ist nicht gerade ein besonders guter, und das weiß sogar Bernardo. Gott sei Dank war Williams Stimme leise genug, so dass es nur von seinem Novize gehört wurde. Doch obwohl dieser mit der
Ironie seines Meisters bestens vertraut ist, erscheint ihm Williams Äußerung doch ein wenig befremdend. „Doch auch eine gute Nachricht ist dabei, du kannst dich morgen im Laufe des Tages bemühen, zur
Rettung ihrer Seele ist dem Bischof jeder recht, der fromme Worte für sie finden wird.“ Sich von der Enttäuschung lösend, bedankt sich William bei dem Gerichtsschreiber für dessen Mühen und versucht
so gelassen wie möglich hinzuzusetzen: „Nun, dann sollten wir uns eilen, um zur rechten Zeit wieder in die Abtei zu kommen.“ Und an Bernardo gerichtet: „Wir werden morgen unsere Diskussion über die
Schriften des Humbert von Romans fortsetzen“ und zwinkert seinem Novizen dabei verschwörerisch zu. „Ja, Meister, ich bin schon sehr gespannt.“ Daraufhin nickt William kurz, dreht sich um und geht mit
großen schnellen Schritten zurück zur Abtei. Seine Kapuze tief ins Gesicht gezogen, mit finsterer Miene dergestalt, dass die anderen, die ohnehin Schwierigkeiten haben, ihm zu folgen, erahnen, dass
er nicht mehr angesprochen werden will. So ziehen denn auch die drei wortlos in die Abtei ein. Als das Nachtgebet geendet hat und die Junisonne ihre Bahn zum Horizont zieht, trennt sich William von
seinen Freunden, um bei einem Spaziergang im Klostergarten seine Gedanken zu ordnen. Seine feuchten Augen nehmen die Schönheit der Natur auf, während sein Herz im krassen Gegensatz dazu zu zerbrechen
droht. Es brennt in seiner Brust, das Atmen fällt ihm schwer und fühlt sich hilflos wie ein kleines Kind. William möchte all seine Kraft dazu verwenden, damit die Erde ihre Drehung in die
entgegengesetzte Richtung wendet, und er weiß doch, dass dies ein unmögliches Unterfangen ist. Aber wie sagte Franziska noch: „Was ist die Unmöglichkeit? Gott hat uns auf die Erde geschickt, damit
wir lernen, dass die Unmöglichkeit nur in unseren Köpfen existiert und unsere eigene Behinderung darstellt. Nichts ist unmöglich, solange wir uns nicht einreden, es wäre so. Unsere Bequemlichkeit
lässt Mögliches unmöglich werden oder unsere Angst vor den Konsequenzen oder unsere Furcht, dass wir uns mit uns selber konfrontiert sehen, uns erst verändern müssen, bevor wir das Unmögliche möglich
machen können.“ „Franziska, das sind schöne Worte,“ hatte er ihr damals erwidert und jetzt fällt ihm auf, dass er es versäumt hatte, darüber nachzudenken. Natürlich, ich könnte den Kerker bezwingen,
allein wohl kaum! Aber mit 120 Mannen, aber wovon sollte ich diese entlohnen? Man könnte sich auch mit List stark machen! Ich könnte sie befreien und dann fliehen wir in ein anderes Land und... da
fällt es ihm auf, seine Angst vor den Konsequenzen, seine Furcht vor sich selbst und den Veränderungen. Er ist wie gelähmt. Da wird er jäh aus seinen Gedanken gerissen, als er Bruder Jacob auf sich
zukommen sieht. „Bruder William, ich wollte vorhin nichts sagen, als Bernardo noch bei uns war aber ich habe etwas für dich.“ „Was, Bruder Jacob, was hast du für mich? Und ich muss dich warnen, gib
es mir nur, wenn du dir sicher bist, dass es nicht mit Negativität behaftet ist, denn ich befürchte mein Gemütszustand kann nur noch Ablenkung positiver Art ertragen.“ „Ich glaube, ich kann deine
Schmerzen damit ein bisschen lindern, ob es allerdings positiv ist und es dich sogleich zu trösten vermag, kann ich dir nicht versprechen.“ „Nun ja, schon das Wort Linderung ist Balsam für meine
Ohren.“ „Dann folge mir, William.“ „Du verstehst es immer wieder, auch mich unter Spannung zu versetzen, wo hast du es?“, und ein leichtes Lächeln huscht über die Gesichter, doch die Traurigkeit in
ihren Augen mag es nicht zu erreichen. Sie verlassen die Gartenanlage und Bruder Jacob steuert auf das Dormitorium zu. William versucht in Gedanken die letzten Tage für sich zu rekonstruieren, da
fällt ihm eine Unstimmigkeit auf und er ergreift erneut das Wort. „Ich wollte dich das am Tag zuvor schon gefragt haben, Jacob, wo warst du eigentlich gestern, ich habe dich bei der Laudes nicht
erblicken können und dich dann beim Abendgottesdienst vermisst.“ „Ich habe dich beim Abendgottesdienst gesehen, du hattest wohl nur den Verstand für deine Gebete und wohl nur die Augen für Schwester
Franziska.“ „Ach, alter Tor, du weißt doch, dass der Abt Franziska aufgefordert hat, ihre Gebete im Hospiz zu zelebrieren.“ „Nun ja,“ und mit diesen Worten öffnet Bruder Jacob die Tür zu seiner Zelle
und sagt: „Hier, William, hier habe ich den Trost für dich.“ Er geht auf sein Pult zu und überreicht William eine Schriftmappe. „Was ist das?“ was ist das erkundigt dieser sich etwas irritiert,
während die Frage: „wo war Jacob? ganz in den Hintergrund tritt. „Schwester Franziska übergab mir diese Schriftmappe heute Morgen, kurz vor ihrer Verhaftung, und bat mich, sie dir zu überreichen, ich
weiß allerdings nicht, um was es sich da handeln mag.“ „Franziska?“ Mit großen Augen schaut William erst Jacob an, dann die Schriftmappe in seiner Hand und beginnt eifrig, in dieser zu blättern. „Es,
...es sieht so aus als,.... ja, es scheint, nein, warte,.... es sind Aufzeichnungen ihres Lebens, Jacob, und sie sind für mich geschrieben, du hast Recht, welch ein Trost für die Wunde meines
Herzens.“ Seine Augen bekommen wieder einen Glanz des Glückes. Da werden sie von der Kirchenglocke ermahnt, ihr Nachtlager aufzusuchen, und William eilt sich, den kostbaren Schatz in seine Zelle zu
bringen, um dann ein Stoßgebet des Dankes gen Himmel zu senden. Natürlich findet er in dieser Nacht keinen Schlaf, zu neugierig ist sein Herz, die Zeilen seiner Seelenschwester zu lesen und verloren
in der Vergangenheit findet er Trost und vergisst seinen Schmerz. ...Weit schon bin ich gereist, ich hätte nie geglaubt, dass ich je das Land meiner Väter verlassen könnte und nun bin ich kurz davor.
Ich nehme Abschied. Der Wind zerrt an meinem Schleier und das wilde Meer tobt unter mir, rauhe Felsen, die mich tragen. Alleine sein ist in diesem Land nichts Ungewöhnliches, denn die meisten
Gegenden sind menschenleer, doch habe ich hier nie die Einsamkeit kennen gelernt, die mich wohl bald im fremden Land erwarten wird, denn trotz der Rauheit nehmen mich die sanften Hügel und das weiche
Gras immer tröstend in den Arm, und die blühende Heide im Sommer bestrahlt nicht nur die grauen Steine sondern dringt auch mit ihrer Farbenpracht in mein Herz. Oh England, mein geliebtes England.
Träume von dir werden mich begleiten. Wie kann es nur sein, so oft rätselte ich darüber und zermarterte mir mein Gehirn. Wie kann es nur sein, dass in diesem Land, in dieser Schönheit, in dieser
heiligen Kraft der Natur Menschen leben, die all dies Wunderbare nicht sehen, nicht spüren können, die von Neid, Habgier und Macht so verbittert sind und dieses Land verwüsten, an ihm zerren und
alles vergiften. Oh, ihr trüben Gedanken, fahret fort und schlagt einen anderen Weg ein als den, den ich nun gehen werde. Oh geliebtes England, ich weiß, mögen auch Jahre und Jahrzehnte ins Land
gehen und auch wenn Jahrhunderte verrinnen, du wirst mit all deiner Schönheit immer auf mich warten. Lebe wohl ....Heute ist mir ein Engel erschienen! Bruder William . Er ist ein unbeschreibliches
Phänomen. Wie ein lebendes Buch des Wissens, ein Wegweiser in der Weisheit und ein Fels in der Religion. Ich habe das Gefühl, obwohl wir erst einen Tag unseren Weg gemeinsam gehen, dass er mir so
vertraut ist wie ein alter Freund und Vater. Irgend etwas scheint uns zu verbinden. Wir reden über das Gleiche, ohne ein Wort zu verlieren, die Wege, die wir gehen, gehen wir so selbstverständlich
zusammen, als ob wir immer schon den gleichen Weg gegangen wären. Diese Vertrautheit ängstigt mich. Vielleicht ist er ein Engel, der mich auf meinem Weg beschützen soll. Zu Ehren Bruder Williams habe
ich beschlossen, erneut mit dem Schreiben von Tagesaufzeichnungen zu beginnen. Es soll mir ein Trost sein in den Stunden, da ich alleine bin, so kann ich mir immer wieder meine Gefühle ins Gedächtnis
rufen an Tagen der Dunkelheit, denn William brachte mir das Licht zurück. Gestern Abend noch schien mir alles so sinnlos und ich fühlte mich verloren und alleine in dieser großen kalten Welt, ich
dachte, du, GOTT, würdest mich ignorieren oder hättest mich gar vergessen in meiner Unwürdigkeit. Heute Morgen jedoch belehrtest du mich eines Besseren. Tage waren vergangen, an denen ich keine
Menschenseele zu Gesicht bekommen hatte, da brach eine ausgelassene Erleichterung in mir hoch, als ich den Hügel überquerte und auf der anderen Seite an dessen Fuße einen Mitbruder erkannte. Mein
Herz sprang in die Höhe wie schon lang nicht mehr, längst vergessen hatte es diese akrobatischen Übungen, dachte ich, und lief wie ein kleines erregtes Kind auf ihn zu. Etwas verärgert schien er mir,
als er stehen blieb, nun ja, meine Begrü.ung war auch nicht gerade eine angemessene. Schon gar keine, wie sie in den Klöstern zelebriert wird, und während ich dies schreibe, höre ich auch schon die
ermahnende Stimme meiner Mutter Oberin, die versucht hatte aus einem Kind eine gehorsame Nonne zu machen. Mein Mund begann mit einer dermaßen Geschwindigkeit zu reden, dass mein Geist keine
Möglichkeit hatte, die Wörter, die aus ihm herauspurzelten, zu überprüfen. Mein von mir selbst auferlegtes Schweigegelöbnis war somit gebrochen und ich bemerkte die List meiner Gedanken, die
vorgehabt hatten, mir die Menschenleere erträglicher zu machen. Als Bruder William mir das erstemal in die Augen schaute, da bemerkte ich es, es durch fuhr mich wie ein Blitz, wie eine Offenbarung,
die mir sagte, schau, du bist nicht mehr alleine, wirst nie mehr alleine sein. Natürlich hegte ich sofort Zweifel und mir war klar, dass das nicht möglich sein konnte, aber schon war dieser
Augenblick vorüber und nur jetzt in der Stille der Abendsonne kommt mir die Erinnerung meiner seltsamen Gefühle wieder ins Bewusstsein. Heute Morgen erwachten wir gemeinsam, als die Sonne aufging,
und schweigend, ganz still verharrten wir im tiefen Gebet. Es legte sich anschließend eine tiefe Ruhe und Gelassenheit über William, so, dass ich mich erst einmal zurückhalten wollte, ich
befürchtete, sonst könne er mich für ein altes Plappermaul halten, doch da ergriff er das Wort und mir blieb nichts anderes übrig, als Stund um Stund ihm gespannt zu lauschen und hin und wieder eine
mehr oder weniger passende Bemerkung einzuwerfen. Um die Mittagsstunde kamen wir an einem kleinen Dorf an und wurden von einem Bauern eingeladen, mit ihm das Brot zu brechen. ... Ohne es bemerkt zu
haben, legt ein Traum sich doch noch über Williams Augen und lullt den Verstand ein, er fällt vornüber auf den Tisch und geht in eine andere Dimension, in eine längst gewesene Zeit, eine Dimension
ohne Schrecken, Angst und Verzweiflung, in eine Zeit des Glücks und der Seligkeit. Die Erinnerung hat ihn eingeholt und er geht ganz in ihr auf. Laudes, die Zeit des Morgenlobs. Sie mussten sich für
die Nacht ein Lager in der Natur suchen, und als die Sonne ihre ersten Strahlen in die Nacht schickte, um den neuen Tag anzukündigen, steht er mit Franziska auf einem Berg und beide betrachten mit
Ehrfurcht das Schauspiel, den Kampf am Himmel, dieses unumstößliche Gesetz, dass nach einer finsteren Nacht das Licht den Sieg davonträgt. Eng stehen sie beieinander und wortlos ergreift er ihre
Hand, überw.ltigt von der Schönheit des Himmels, des Lichts, des Lebens, und als sich ihre Hände berühren, geschieht etwas Wunderbares, es ist eine fast göttliche Vereinigung. Ihre Sinne ziehen hoch
in den Himmel und dort über den Wolken begegnen sie sich wieder und werden eins, um im gleichen Moment als Einheit zurück zur Erde zu kommen, um sich in ihren Körpern wieder zu finden. Nur fand keine
Trennung statt, sie finden sich als getrennte Einheit in ihren Körpern wieder, die, erstrahlt von Glück, leise anfangen zu beben. Nach dieser ewigen Sekunde schauen sie sich an und bemerken, sie
sehen sich selber in dem anderen, und verwundert mit offenen Mündern und Tränen des Glücks in den Augen begegnen sie sich selbst. Die Sonne steigt triumphierend in den Morgen und überstrahlt die
Welt, bis sich der Zauber allmählich wieder in der Zeit verliert. „William, was ist geschehen, ist es wahr, dass du jetzt immer bei mir sein wirst?“ Bewegung kommt in ihre Körper und sie stehen sich
nun gegenüber. Keiner vermag die Verbindung der Hände zu lösen, aus Angst, die alte Gewohnheit würde mächtiger sein als die Magie, die sie umgibt. Stunden um Stunden hätten sie so dastehen können,
hätte nicht ein Geklapper von Pferdehufen die Stille zerrissen, das einen Trupp Reiter ankündigt. Wie ertappt springen sie auseinander und sehen verlegen zu Boden, bis sich dann doch wieder ihre
Augen finden und da fangen sie an zu lachen. Ihr Lachen verdrängt zwar den Zauber, aber die Veränderung ihrer Selbst bleibt, und über die wunderschöne neue Erkenntnis und die daraufhin
verlorengegangene Angst wird ihr Lachen ausgeglichener und lauter. Sie müssten sich zusammenreißen, um die Reiter gebührend zu begrü.en, doch das Gelingen bleibt aus. „Seid gegrü.t.“ „Pace e bene.“
Lässt William aus seinem strahlenden Gesicht fallen und Franziska kichert: „Ich schließe mich dem Gruß meines Bruders an.“ „Wir wünschten, unsere Mission wäre nur halb so fröhlich wie die Gesichter,
die ich erblicke.“ Und da ertönt ein Glockenschlag und reißt William in die Gegenwart zurück. Er öffnet die Augen und Dunkelheit starrt ihn an. Während sein Kopf noch auf dem Tisch liegt, weicht das
Glück aus seinen Gliedern vor der Traurigkeit des Seins, das hier und jetzt vorherrscht, doch lässt ihn die Kraft der Vergangenheit gelassen und ausgeruht aufstehen und trägt ihn zur Mette in die
Kirche. Anschließend begibt er sich zurück zu den Aufzeichnungen, zurück zu Franziska. ...Trotz der so kurzen Zeit unserer Begegnung fühle ich mich jetzt nur noch wie ein halber Mensch. Doch wenn
meine Gedanken sich an dich verlieren, bin ich bei dir, glaube ich zu fühlen, wie es dir geht, und scheine dich sogar riechen zu können. Der Duft eines Menschen den die Klarheit und die Weisheit der
ganzen Menschheit umgibt. Oh, ich weiß, ich setze dich in Gedanken auf einen viel zu hohen Sockel, doch vergib, so empfinde ich für dich. Du bist mir in den wenigen Tagen mehr noch als ein Freund
geworden. Du bist wie ein Vater, wie die Selbstverständlichkeit unserer Zusammengehörigkeit, die Vertrautheit, die ich bisher nur mit mir selber hatte und mit Dir, GOTT. Ich fühle mich krank und
trostlos, selbst unser Heiliger Vater vermag mich nicht zu trösten in dieser Nacht, da ich allein in dieser so unüberwindbaren Finsternis sitze und nur das Licht meiner Kerze mir Gesellschaft
leistet. Selbst die Sterne scheinen vor meiner Traurigkeit zu fliehen. Möge GOTT unsere Wege wieder vereinen. Ich brauche dich so sehr, oh, du mein klarer Verstand. Die Welt scheint mir so verrückt,
so unbegreifbar. Schien es mir gestern noch so, als ob ich sie umarmen könnte, hat sich die Realität ganz schnell wieder eingestellt, befürchtetest Du, GOTT, ich hätte mich daran gewöhnen können?
Doch der Trost bleibt, du, William existierst, du lebst, es gibt dich und diese Tatsache erstickt das aufkommende Gejammer im Keim. Hab ich doch selber Schuld an meinem Ungemach, so hätte ich nie
gewusst, dass es jemanden gibt wie dich, hätte ich es nicht auf mich genommen. All meine Kraft möchte ich verbrauchen, um die Nacht zu überwinden, bis du wieder bei mir bist, und wenn die Dunkelheit
mein Leben lang währt und wir uns erst wieder im Himmel begegnen. Ja, ich will stark sein, ich will mein Schicksal ertragen und ich weiß, Du, GOTT, bist meine Zuversicht........ ...Wie ein Schatten
meiner selbst laufe ich wie ein Blatt im Wind umher. Tage gleichen Nächten und Nächte gleichen Tagen, da du in meinen Träumen bist. Ich befürchte, dass mir mein Verstand entschwindet, denn wenn ich
auf meinem Weg die Konzentration verliere und ich meine Gebete gebetet habe, fange ich an mit dir zu diskutieren, mit dir zu philosophieren und bin ganz weit weg, an einem Ort, wo es nur Frieden und
Ruhe gibt. Erschrocken musste ich heute Mittag feststellen, dass ich zuweilen auch laut mit dir spreche. Ich wanderte auf einem Feldweg entlang und hörte, wie aus weiter Ferne zwei Wegelagerer mir
zuriefen :“ He, das wissen wir doch nicht.“ Die versoffene Stimme des einen holte mich schnell zurück aus meiner Gedankenwelt. Ich kicherte in mich hinein, bekreuzigte mich und sagte, da ich annahm,
dass der Wegelagerer sich wohl angesprochen gefühlt haben musste: „Danke, mein Sohn, dass du versucht hast, darüber nachzudenken, und wenn es auch nur für eine kurze Weile war.“ Eine verächtliche
Handbewegung, gefolgt von einem mürrischen Gemurmel, verriet mir, dass die beiden mich wohl für eine verwirrte Seele hielten. Eine wunderbare Tarnung, eine irre, verlaufene Nonne. Ich hoffe nur
inständig, dass die Verwirrtheit eine Tarnung bleibt! Denn es fühlt sich schon seltsam an: wenn ich in der eisigen Wintersonne gedankenverloren meinen Weg gehe, fühle ich mich eins mit allem und
genieße eine wunderbare Art der Verzückung, und wenn Schneeflocken auf meiner Nasenspitze tanzen, erwärmt sich mein Herz. Morgen ist Weihnachten und eine wundersame Stimmung liegt über der
Landschaft. Ich fand Unterschlupf in einem kleinen Holzverschlag, die Sonne ist untergegangen und der Abendstern leuchtet mir Hoffnung in mein Herz. Meine Kerze geht jetzt langsam zur Neige, und wenn
ich morgen Abend unserem Christus eine Kerze weihen möchte, denn eine habe ich mir für diesen besonderen Tag im Jahr bewahrt, wie ein Kleinod, dann sollte ich nun aufhören zu schreiben. Nur eines
noch, mein lieber William, ich schließe dich in meine Gebete und ich fühle, dass es dir gut geht. GOTT segne dich....“ An diesem Vorweihnachtsabend, fast sechs Jahre sind ins Land gegangen, da ging
es William tatsächlich gut, und bei der Erinnerung tritt ein leises Lächeln auf seine Lippen. Er wähnte Franziska in Sicherheit und war immer noch in der Abtei St. Nikolaus vollauf beschäftigt mit
den Weihnachtsvorbereitungen. Franziska hatte er immer in Gedanken bei sich. Eingelullt von dieser Harmonie, von der Kraft, die von diesem Ort ausging, glaubte er Franziska in der Sicherheit eines
Klosters, und bei jedem Handgriff stellte er sich vor, dass auch sie ihn ausführte, um die Kirche für den Heiligabend zu schmücken. Er stellte sich vor, wie ihr wie Glocken klingendes Lachen die
Kirche erhellte, und als er es in seiner Phantasie zu hören bekam, erhellte das Lachen auch sein Herz. Ja, ein ganz besonderer Segen lag damals in der Luft und ließ ihn seine Zweifel und
Zerrissenheiten vergessen, ja sogar sein vorher so schlechtes Gewissen löste sich auf in Wohlgefallen und er konnte zum ersten Mal nach dem Abschied von Schwester Franziska ihre Existenz in Liebe
annehmen. ........Weihnachten liegt nun schon einige Wochen zurück und wieder bin ich auf der Straße der Sehnsucht und auf der Suche nach einem neuen Zuhause. Als ich am Weihnachtsmorgen erwachte und
gerade in meine steif gefrorenen Finger und Fü.e wieder Leben einhauchen wollte, um den neuen Tag mit dem Morgenlob zu begrü.en, freute ich mich wie ein echtes Schneekönigkind auf mein kleines Stück
Käse, das mir eine Bauersfrau einige Tage zuvor geschenkt hatte. Vier Wochen hatte ich nun schon gefastet und das K.sestück sah ich als mein ganz persönliches Weihnachtswunder, da tauchte im Eingang
des Verschlages eine riesige Gestalt auf, mit einer scharfen Axt in der Hand, in der sich die gerade aufgehende Sonne gefährlich spiegelte. Ich stieß einen Schrei des Entsetzens aus und wich zurück.
Die riesige Gestalt setzte sich in Bewegung und trat auf mich zu. Ich wähnte mein letztes Stündlein gekommen und bekreuzigte mich, und für die Dauer eines Ave blieb mein Herz stehen. Doch der Mann
senkte die Axt und murmelte in einem schwer verständlichen Dialekt so etwas wie: „ Heilige Mutter Maria und Josef, der Herr hat meine Gebete erhört.“ Und auch das meine musste er gehört haben, denn
die Axt und der Riese stellten plötzlich keine Bedrohung mehr dar, ganz im Gegenteil. Auf meinem Weg scheint das Glück mitzureisen. Der Bauer erzählte mir, dass sein Sohn sich am Bein verletzt hatte
und die Familie den weiten Weg bis zur nächsten Kirche nicht antreten wollte ohne ihn, doch Weihnachten ohne Gottesdienst fand der Bauer fast unerträglich. Er war als guter Christ von seinen Eltern
erzogen und versicherte mir mehrmals, dass er fest hinter dem Glauben stehe.. Er hatte eine Sarazenin geehelicht, die er sich von einem Kreuzzug mitgebracht hatte. Doch bedauerte er, dass sie nur
schwer vom Christentum zu überzeugen war. So weit ich verstand, gab es am Abend zuvor einen heftigen Streit, und seine Frau spottete mit Worten wie: „Na, wo ist denn dein Christus, wieso hilft er dir
nicht, wieso hilft er deinem Sohn nicht, der gestürzt ist und vielleicht ein Krüppel bleiben wird?“ Als der Bauer dann noch von mir hörte, dass ich in der Heilkunde bewandert bin und mir den Fuß
gerne ansehen wollte, war er fest davon überzeugt, ich wäre von Gott gesandt. Ich weiß, ich hätte den Gottesdienst nicht zelebrieren dürfen, auch wieder so ein Vergehen, aber du hättest seine Augen
sehen sollen und erst die Gesichter der kleinen Familie, wie glücklich diese waren, als ich ihnen die Messe las. Da hättest auch du fast geglaubt, der liebe Gott hätte dieses Treffen zustande
gebracht und hätte mich deshalb in diese verlassene Gegend geschickt. Und außerdem glaube ich, dass die Frau des Bauerns jetzt tatsächlich unseren HERRN in ihr Herz geschlossen hat. Für mich ward
dieses Weihnachtsfest zu dem feierlichsten und schönsten, dem ich je hatte beiwohnen dürfen, und nach dem Abendmahl saßen wir alle zusammen an der Feuerstelle, und der kleine Thomas, dessen Knöchel
nur verstaucht war, wollte immer und immer wieder die Weihnachtsgeschichte von mir hören. Ich durfte ein paar Wochen bei dieser freundlichen Familie bleiben und wurde richtiggehend von ihnen wieder
hochgepäppelt, da die Zeiten des Fastens mich doch ein wenig geschwächt hatten. Die Zeit des Friedens währet jedoch nicht ewig, und so machte ich mich frisch gestärkt auf meinen Weg, (Friede sei mit
euch, ihr guten Bauern). Sicherlich gab mir die Frau mehr Proviant mit, als sie entbehren konnten, denn der Winter in diesem Jahr ist hart, doch sie ließ sich um nichts in der Welt davon abhalten.
...Ich erreichte einige Tage später eine kleine Stadt am Fuße der Alpen, die es nun zu überqueren gilt. Glaubst du, es war eine Sünde, das Schinkenstück gegen Kerzen zu tauschen? Doch dort erzählte
mir der Kerzenmacher unaufgefordert von einem kleinen Stiftkloster hinter dem Wald, ungefähr eine halbe Tagesreise von der Stadt entfernt. Es wird geführt von einem Schwesternpaar, das nach dem Tod
ihrer Eltern deren Besitz der Kirche überschrieben hatte und von dieser die Erlaubnis bekam dort ein Stift zu führen. Da die Damen des niederen Landadels keine sehr gute Partie waren, hatten beide
keinen Mann abbekommen, so zogen sie es vor, sich in stiller Eintracht mit Gott zurückzuziehen. Recht kurzfristig entschloss ich mich dazu, den Kanonissen einen Besuch abzustatten. ...Das Kloster ist
ein eher schlichter Bau, doch auf einem wunderbaren Berghang gelegen. Ein erhabener Anblick wird einem offenbart, im Hintergrund die stolzen schneebedeckten Berge und gegenüber der Tannenwald mit
seiner hingebungsvollen Stille. Über dem Eingang am Tor wird man mit den Worten „Alpha et Omega“ begrü.t und tatsächlich kann man erahnen, dass der Ort hier am Ende der Welt den Anfang der Stille
birgt. Auf mein Klopfen wurde mir aufgetan und ich muss gestehen, ich staunte nicht schlecht, was für ein Anblick meinen Augen offenbart wurde. Selbst im Winter konnte man erahnen, dass die
Gartenanlage im Frühling zu einem prächtigen Wunder erblühen wird und das schlichte weiß getünchte Steinhaus sich optimal in das Bild einfügt, ohne die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Angesichts
dieser Gartenarchitektur hätte es wohl jedes Gebäude schwer, das nicht einer prächtigen Burg glich, wollte es mit der Schönheit der Pflanzenwelt dort konkurrieren. So wie ich staunte über die
Schönheit, die ich hier antraf, so staunte auch die Pförtnerin im gleichen Maße über dass, was sie zu Gesicht bekam, denn die Sanktimoniale, die hier lebten, waren für das Stift das, was die Blumen
für den Garten sind. Ich dagegen wirkte wie Unkraut in meinen schlichten Ordenskleidern, die mich wacker gegen Wind und Wetter zu schützen suchten, denn sie hingen mir in Fetzen herunter. Und dennoch
wurde ich aufs freundlichste begrü.t. Die Pförtnerin ließ mich von zwei jungen Novizinnen sofort zur Äbtissin bringen. Die Mutter Oberin lachte mir aufmunternd zu, und als ich ihr meine Geschichte
erzählt hatte und, dass ich mich trotz allem immer noch auf dem Weg nach Rom befinde, segnete sie mich und schloss mich fest in ihre Arme. Dann wies sie sogleich ihre Dienerin an, mir ein Bad zu
bereiten und einen Schlafplatz im Dormitorium herzurichten. Meine Kleider wurden während meines Bades ausgetauscht und ich tat, seit einer Spanne undenkbarer Zeiten, weltliche Kleidung an. Die
Einheitstracht bestehend aus einem weißen Kleid und schwarzen Gewand mit schwarzer Haube und Schleier, wurde nur zum täglichen Chordienst getragen. Diese Tracht wurde auch mir am nächsten Tag
angeboten. Die Chordamen hier haben sich keinem Gelübde verschrieben, sie können jederzeit austreten, um zu heiraten, oder können auch Monate dem Stift fern bleiben. Und dennoch, hier in dieser
Abgeschiedenheit herrscht eine Heiligkeit vor, wie sie sonst kaum zu finden ist, denn solange die Sanktimoniale hier im Stift weilten, wurde streng nach der Regel des heiligen Augustinus gelebt.
Zuerst muss ich dir, lieber William, gestehen, wirkte all das auf mich sehr eigentümlich und auch mich muss ich damit einschließen. In diesen Kleidern fühle ich mich als Verräterin. Was würdest du
nur sagen, könntest du mich so sehen? So schnell es geht, werde ich versuchen, meine geliebte Tracht zu flicken, um bald wieder ich selbst zu sein.... ............Lieber William, die anfängliche
Merkwürdigkeit meiner Mitschwestern hier, die ich zuerst empfunden hatte, hat sich gänzlich aufgelöst und liebevoll hält mich dieses Kloster am Ende der Welt in seinen Armen, und wenn dies wirklich
das Ende der Welt ist, so ist es ein wahrhaft schönes Ende. Hier spürt man nichts von der schweren Traurigkeit unseres Landes. Es ist, als hätte Schwester Sonne, die mir durch das Fenster meiner
Zelle zuzwinkert, ein Auge auf diese Mauern geworfen. Noch nirgends spürte ich eine so fröhliche und gelassene Harmonie. Dieser Ort scheint vom Himmel begünstigt zu sein. Ich habe einen Platz
gefunden, mich nützlich zu machen, denn dem Kloster schließt sich ein kleines Hospital an, das die adeligen Damen hingebungsvoll führen. Und meine neuen Mitschwestern, denn ich werde hier von ihnen
wie eine Mitschwester getragen, sind ein Vorbild an Frömmigkeit und Nächstenliebe, sie fragen nicht, wer ich war und wohin ich wollte, vollständig einbezogen fängt mein Leben an, in ruhigen Bahnen zu
fließen...... ....Manchmal werden wir heimgesucht von Gedanken, die uns quälen und uns nicht wieder loslassen, scheinbare Zufälle, Kleinigkeiten, die nicht ins Gewicht fallen, wir werden aus einem
tiefen Schlaf gerissen, wir werden wach und sind gezwungen zum Nachdenken, zum Nachdenken über die Welt. Mit dem Wissen der Vergangenheit, mit seiner Sichtweise der Gegenwart und mit seiner Vorahnung
an die Zukunft, die aus beiden gepaart, kommt man unweigerlich an den Punkt, dass es Zeit ist, dass es Zeit ist zu handeln. Doch das Verstehen in Handlung umzuwandeln und es somit in Bewegung
umzusetzen, fällt oft so schwer. Vor allem, wenn um einen herum alles in freudiger Harmonie stagniert. Eingebunden in dieses Klosterleben fühle ich mich wohl, geordnet, geborgen und sicher. Vor
einigen Monaten noch hatte ich geglaubt, ich könnte hier zu Hause sein, ich hätte einen Platz im Leben gefunden und würde zur Ruhe kommen. Doch nun lässt der Frühling sein Gesicht langsam erahnen und
auch in mir regt sich, wie in den Bäumen rund um diese Abtei, eine Unruhe, wie sie in Kinder zu finden ist, die erwachsen werden wollen. Ich sah heute einem Vogel hinterher im Licht der aufgehenden
Sonne und wünschte mich auf seine Flügel. Die Sehnsucht in mir zerriss mir fast das Herz und lange schaute ich dem Vogel zu, bis die Sonne mir in die Augen stach und ich meinen Blick geblendet von
der Schönheit des Anblicks abwenden musste. Warum kann ich nicht zufrieden sein mit dem, wie es ist, oh GOTT, nimm mir die Zweifel, dieses Hin- und Hergerissensein von Frieden und Unruhe aus meiner
Brust. Ich weiß, es ist eine Prüfung. Aber es kann keine Prüfung meines Glaubens sein, meiner Liebe zu DIR, denn ich lebe in Deinem Herzen, und nach dem ich einmal den Weg dorthin gefunden habe, will
ich nicht wieder zurück. Da scheint jede noch so große Prüfung klein und schmächtig gegen meine Sicherheit. Denn Du gibst mir ja diese Sicherheit, Du richtest mich Wirbel für Wirbel wieder auf, wenn
mich mein Schicksal zu Boden geschleudert hat. Warum kann ich keinen Frieden finden? Oh GOTT, sage mir, ist die Sehnsucht in meiner Brust nur die verdrängte Schuld in meinem Herzen, die ich mir nicht
eingestehen kann? Aber ich musste doch so handeln, die Zerstörung wäre größer gewesen sonst, andere Menschen wären in Mitleidenschaft gezogen worden und die Kreise, die der Stein gezogen hätte, wären
derer viele geworden, und durch meine Tat wurden es nur drei, drei Kreise im Wasser des Lebens. Will ich mit diesen Gedanken nur meine Hände rein waschen von dem Blut, das an ihnen klebt, unsichtbar
noch nach so vielen Jahren und doch erkannt, von mir und von DIR? Hätte ich ein einziges Leben vor das Leben der anderen stellen sollen? Ja, ich weiß, für Dich, GOTT, zählt jedes einzelne so viel wie
das Universum ,weil jedes Leben ein Universum in sich birgt. Aber andere Leben, andere Universen wären zur Rettung des einen zu Grunde gegangen. Wie schwer würde diese Verantwortung auf mir lasten.
Oh, nimm mir die Zweifel, wasche mich rein von Schuld, ach, ich weiß ja,so lange ich diesen Zwiespalt in mir trage und nicht auflöse, könnte Jahrhunderte lang anhaltender Regen auf mich herab fallen,
er vermag mich nicht rein zu waschen, wie eine Frau es nicht mehr vermag nach einer Nacht mit einem Manne, zur Jungfräulichkeit zurückzukehren... In William wird der Zweifel wach bei den Worten, die
er da liest. Welches Geheimnis mag Franziska bergen? Besorgt liest er weiter. ...Ich muss fort von diesem Ort, das weiß ich jetzt, es ist die Reinheit derer, die Dich hier anbeten, oh, mein GOTT, und
ich fühle mich wie ein schwarzer trüber Fleck in ihrer Mitte. Oh, ich würde platzen, wenn Du nicht wärest, so verzweifelt, so zwiegespalten bin ich und mir ist, als würden beide Hälften keinen Platz
mehr unter meiner Haut haben, sie drohen mich zu zerreißen...... . ...Oh, William, von einem plötzlichen Impuls getrieben musste ich an dich denken und nun gehst du mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich
bat Schwester Anastasia, der ich hier unterstehe, um Erlaubnis, meine Arbeit beenden zu dürfen, um zu beten. Ging sogleich in die Kirche, um meine Gedanken zu klären. Aber es gelang mir nicht. Mein
verborgenes Wissen drängt in mir, wie die ersten Knospen dieses Frühjahrs endlich wieder an die Oberfläche zu kommen, um erneut zu blühen. Ist dies eine Prüfung von GOTT, oder soll ich dem Geist der
Wahrheit folgen und darf nicht schweigen, soll das schreckliche Geheimnis gelüftet werden? Ist es die Stimme Gottes, die in mir drängt die meine zu erheben oder die der Hoffart? Die liebevollen
Erinnerungen an dich, mein Bruder, sind sie aus Egoismus gewachsen, oder soll die Blüte der Lehren aus unseren Diskussionen Früchte tragen? ....Ich werde gehen, nein fliehen, wie so oft in meinem
Leben, und weiß doch, ich fliehe nicht vor Bruder Nicodemus sondern vor mir und weiß auch, ich nehme mich doch überall mit hin. Wenn morgen der neue Tag anbricht, werde ich der Mutter Oberin Bescheid
sagen, dass ich diese Mauern verlassen muss. Werde ich die Mauern meiner Zweifel je verlassen können? GOTT, Du mein heiliger Vater, gib mir ein Zeichen und lass mich nicht allein in der Dunkelheit
meiner Verwirrung. Bei mir ist die Dunkelheit, doch bei Dir, GOTT, ist das Licht. So erleuchte mir den Weg......... ......So wechselhaft wie der April, so wechselhaft sind meine Gedanken. Tage der
Erleuchtung und Ruhe wechseln sich ab mit Tagen der Freude und Ungeduld, erfüllt von Bewegung, im Geiste und im Körper. Es fällt mir schwer, still zu sitzen und dem Gottesdienst zu folgen. Die Lieder
singe ich dann viel zu laut und Schwester Dominik, die mir hier eine liebe Freundin geworden ist, ruft mich stets (leider zu oft) zur Ordnung . Doch an manchen Tagen verfalle ich in Meditation, so
extrem, dass ich stundenlang auf dem Boden vor dem Altar liege, um im seligen Einklang mit GOTT zu verharren und all dies geschieht scheinbar ohne mein Dazutun. Ich lass es einfach geschehen, ER
lässt es einfach geschehen. Die Verwirrung meiner Dunkelheit hat sich ein bisschen erhellt......... .....Heute, zur Mittagsstunde, hatte ich ein sehr langes Gespräch mit der Äbtissin. In ihren Augen
stand Trauer und Unverständnis, als ich ihr sagte, ich müsse wieder gehen, doch sie verstand , zu mindestens sagte sie, sie könne es verstehen, dass ich dem Ruf meines Herzens folgen müsse und meine
Pilgerschaft nach Rom wieder aufnehmen wolle. Der Abschied fällt mir schwer. Ich sitze in meiner Zelle, um auch von ihr Abschied zu nehmen, und doch, ich sehe hinaus, hinauf zum Blau des Himmels und
erblicke wieder den Vogel, der kreisend vor meinem Fenster seine Bahnen zieht und mir ist, als würde er auf mich warten..... ....Die Atmosphäre der mich umgebenden Welt scheint mich ganz langsam zu
verschlucken, während der Wind meine glühenden Wangen streichelt. Die Sterne am blauen dunklen Nachthimmel zeigen an, dass die Nacht die Herrschaft übernehmen wird und die Sonne ihre letzten
glühenden Strahlen auf die Erde nieder wirft, um zum letzten Gruße mit ihrer Farbenpracht die am Himmel stehenden Wolken zu bemalen. Schwarze bizarre Gestalten stehen rings um mich herum und wiegen
ihre Zweige im Wind, und die letzten noch wachen Vögel laden die Welt mit ihrem Gesang zum Schlafen ein. Eine einsame Eule fordert die noch Reisenden mahnend auf, den Wald den Mächten der Finsternis
zu überlassen. Doch sü. ist die Stimmung, die mein Herz umgibt, und ganz sanft tanzt es in meiner Brust. Ich hebe meinen Blick in die Unendlichkeit, die Sonne ist verglüht und abertausend Sterne
funkeln wie Kristalle in einem dunklen Futteral, dass die Welt umgibt. Da plötzlich löst sich eine Sternschnuppe und fällt von ihrem Platz mit einer unvorstellbaren Geschwindigkeit dergestalt, dass
selbst ihr eigenes Licht es schwer hat, ihr zu folgen und in einem gebogenen Schweif ihr hinterhereilt und voll von dieser Glückseligkeit, die sie verteilt, wünsche ich mir, William
wiederzusehen...... ........Trotz der wiederholten Mahnungen der Waldbewohner entschloss ich mich, und ich muss gestehen, nicht ohne Zögern und einigem Hin und Hergehardere meines Selbst, in den Wald
zu gehen. Ich hielt es für ungefährlicher, als in Tagen wie diesen direkt am Wegesrand mein Lager aufzuschlagen. Nach den ersten Bäumen, die ich auf meinem Weg hinter mir ließ zeigte sich sogleich
auch ein fast unüberwindbares Dickicht, doch GOTT möge mir verzeihen, um umzukehren war mein Stolz wieder einmal zu störrisch. Das Licht der Sterne verlor sich in der Dunkelheit der Bäume und ich
strauchelte wie ein blindes Huhn. Wusste dann auch bald darauf nicht mehr, in welche Richtung ich mich bewegen sollte, und der Weg zur Straße hatte sich längst im Labyrinth des Waldes verloren.
Sträucher zupften und zerrten an mir herum, und verzweifelt und wütend über mein ach so kluges Selbst setzte ich mich dort nieder, wo vorher meine Fü.e Halt gefunden hatten. Tränen der Verzweiflung
wollten sich in meinen Augen sammeln.... Doch wieso verzweifeln, dachte ich trotzig in mir, der liebe GOTT wird es schon richten, und wieder einmal musste ER herhalten, um meine verlaufene Situation
zu ordnen. Somit begann ich zu beten. Ein Wind bewegte die unheimliche Nacht um mich herum und ein Zweig legte sich auf meine Schulter, sanft, wie zum Trost. Als meine Augen sich jedoch in Richtung
der Schulter bewegten, erkannte ich in dem Zweig alte knochige Finger wieder, die sich mit ihren langen Nägeln in mein Fleisch zu bohren drohten. Ich schreckte augenblicklich hoch, drehte mich in der
gleichen Sekunde herum und starrte in zwei dunkle Augen, die von einer Lichtquelle beleuchtet wurden. Wäre da nicht die Fackel gewesen, die lichtspendend in der anderen Hand hoch neben dem Gesicht
der Gestalt gehalten wurde, ich hätte schwören können, dass eine Eule mich aus ihren großen unerschrockenen Augen beobachtet. Doch diese vermeintliche Eule hatte eben diese zwei Hände, in der einen
hielt sie die Fackel und die andere hob sie beschwörend in die Höhe. Da fing auch mein Verstand wieder an zu denken und bemerkte, dass es sich um einen Menschen, und nicht um einen Waldgeist, zu
handeln schien. Die erhobene Hand hielt mich an, ihr zu folgen, und ohne ein Wort zu sagen, führte die Gestalt mich sicher zu einer kleinen Hütte, die mitten im Wald verborgen lag. Im Inneren brannte
ein Feuer und im Halbdunklen erkannte ich allerhand seltsame Dinge, die an der Wand hingen oder in den Regalen standen. Und auch jetzt noch, wo ich diese Zeilen schreibe, komme ich mir vor, als wäre
ich in irgendeine Sage oder in irgendein Märchen hineingeraten. Die Gestalt entpuppte sich als eine sehr alte Frau, deren genaues Alter jedoch schwer einzuschätzen ist. Sie beängstigte mich, mit
einem sehr mystischen Lächeln und einer sehr langsamen leisen Stimme und einer fast unheimlich beruhigenden, ja gelassenen Ausstrahlung, alles schien so seltsam, so unwirtlich. Bisher sprach sie kaum
zu mir, wies mir aber ein sehr behagliches Lager zu und sagte, sie würde Brennholz für die Nacht holen, und verschwand, noch bevor ich meine Stimme hätte erheben können. Ich vermute, dass sie eine
Art Kräuterfrau für diese Umgebung ist, und bin sehr gespannt auf den nächsten Morgen, der mich erwartet (wenn ich nicht als Jungfrau in ihrem Kessel lande, bevor der Morgen graut.)..... .........Bis
jetzt ist mir die Hitze unter einem großen, schwarzen Kessel erspart geblieben; ich wurde stattdessen mit einem hervorragenden Dinkelbrei beim ersten Hahnenschrei geweckt und muss gestehen, dass ich
lange nicht so gut und erholsam geschlafen hatte. Hruoswitha, so ist ihr Name, ermahnte mich mit zwinkerndem Auge, meinen Gebeten nachzugehen, während sie den Tee aufgoss, und dankend ging ich nach
draußen. Dieses schien mir der passendere Ort zu sein, den Morgen zu begrü.en und GOTT für dieses Geschenk zu danken. Als ich vor die Tür trat, erwarteten mich die ersten Sonnenstrahlen, und die
vorher so unheimlichen Waldbewohner begrü.ten mich mit einem fröhlichen Gezwitscher. Nachdem ich meine Gedanken im Morgenlob gestärkt hatte, kehrte ich zurück in die doch seltsam anheimelnde Hütte.
Hruoswitha saß schmunzelnd am Tisch und lud mich mit einer Geste ein, ihrem Beispiel zu folgen, reichte mir einen Becher mit herrlich duftendem Tee und begann den Brei aus dem noch dampfenden Topf
auf zwei Teller zu verteilen. Genauso wortlos reichte sie mir das Brot und begann zu frühstücken. Es lag eine merkwürdige Stimmung in der Luft, so dass ich kaum wagte, meine Stimme zu erheben, und
nur zum Dank meinen Mund aufmachte. Nachdem wir geendet hatten, genossen wir den restlichen Tee, und wenn Hruoswitha tatsächlich eine Hexe sein sollte, hatte sie damit begonnen, mich zu mästen. Da
spürte ich mit einem Male einen gehörigen Druck in meiner Blase und begann etwas unruhig auf dem Stuhl hin und her zu rutschen; gebannt von diesem alten Gesicht vor mir, das eine seltsame Jugend
ausstrahlte, wagte ich nicht, diese völlige Stille zwischen uns zu unterbrechen. Hruoswithas Schmunzeln wurde zu einem breiten Lächeln und der Druck in mir so stark, dass ich aufstehen musste und
mich mit einem entschuldigenden Blick an sie wendete. Da erhob sie ihre Stimme, an diesem Morgen wohl zum ersten Mal, und sagte:“ Auch Frauen und Männer in Christo müssen.“ In diesem Moment wurde mir
mein albernes Verhalten bewusst und, ungezügelt brach ich in schallendes Gelächter aus, in das meine Gastgeberin mit einfiel. Nachdem ich mich meiner Not entledigt hatte und zurück in die Hütte
gekommen war, herrschte eine völlig veränderte Atmosphäre. Herzlichkeit kam mir entgegen. Hruoswitha plauderte sogleich auf mich ein, als ich noch verwundert zur Kenntnis nahm, dass der Tisch
abgeräumt war und nichts mehr in der Hütte von dem kurz zuvor eingenommenen Frühstück sprach, will sagen, alles war sauber, Teller, Topf, Becher, einfach alles. Beim Schreiben fällt mir allerdings
auf, dass vielleicht meine etwas überspannten Nerven mir Zauberei vorgaukelte, denn nach unserem Abendmahl war ich dabei, als es darum ging, Teller und Topf zu reinigen. Doch der seltsame Zauber, der
Hruoswitha umgibt, ist nicht von der Hand zu weisen. Was ihr Alter betrifft, so kann sie sich ihrerseits nicht daran erinnern. Sie sagte, dass sie weder Tage noch Jahre zählen würde, sie sind eben da
und verstreichen. Warum, fragte sie mich, solle man sie in Zahlen wiedergeben, was zählt, ist die Essenz. Doch wollte sie meine Neugierde befriedigen, und ungewöhnlicher weise schätzte sie sich
selber auf 80 Winter; und dass sie im Winter geboren wurde, scheint sie ganz genau in der Erinnerung zu haben. Da ich ihr Alter eher zwischen 40 –45 vermutet hätte, bin ich doch etwas verwirrt, wie
du dir denken kannst. Würde man alleine ihre Augen betrachten, könnte man denken, ein 16 -jähriges Mädchen stehe vor einem. Von der Beschaffenheit ihres Körpers ganz zu schweigen. Zufällig sah ich
kurz hinüber zum Brunnen, als sie sich anschickte, sich heute Abend zu waschen. Die Falten, die ihr Gesicht ausmachen, hatten den restlichen Körper nicht erreichen können. Na ja, wie dem auch sei,
nichts steht im Widerspruch zur Natur, nur im Widerspruch zu unserem Wissen. Hruoswitha erzählte mir von ihrer Geschichte, die ich dir in kurzen Worten wiedergeben möchte. Sie hatte ihr Leben lang
hier in dieser Hütte gewohnt, wie zuvor auch ihre Mutter und Großmutter, wie wohl sämtliche Generationen vorher. Ihr Vater war nicht bekannt und ihre Mutter starb, als sie noch klein war. So übernahm
ihre Großmutter ihre Erziehung und brachte ihr das alte Wissen bei. Ein Wissen über Mythen und Magie, durchzogen von Aberglauben über die verschiedensten Götter hier auf Erden, aber auch ein Wissen
über das Heilen von Krankheiten. Ich hatte mir so etwas schon gedacht und wurde hellhörig, als sie dieses Thema ansprach, hatten wir doch so einen guten Gesprächsstoff, ohne uns gegenseitig die
Vorzüge unseres Glaubens auszulegen. Zuerst war ich ein wenig erstaunt über ihre Redseligkeit, was die „Zaubermixturen“ anging, doch ließ sie wie nebenbei durchblicken, dass, wie sie richtig an nahm,
auch ich nicht zu jenen Menschen zählte, die vermeintlichen Hexen den Teufel der Inquisition an den Hals wünschten. Aber wieder zurück zu Hruoswithas Lebensgeschichte. Ihr Leben verlief zuerst ohne
besondere Zwischenfälle, bis sie das Alter der Gebärfähigkeit erreicht hatte. Eines Tages begegnete ihr ein Reiter, der sich im Wald verirrt hatte. Es entbrannte sofort eine große Liebe zwischen
beiden. Die Großmutter ließ sie gewähren, denn obwohl diese Männer hasste, erhoffte sie sich, dass Hruoswitha empfangen und dass ein Mädchen das Licht der Welt erblicken würde. Ihre Hoffnung wurde
jedoch nicht erfüllt. Hruoswitha gebar einen kräftigen Jungen, der allerdings bald darauf erkrankte und starb. Der junge Reiter, der wütend und tobend die Großmutter der Hexerei beschuldigte, verließ
Hruoswitha mit dem Versprechen, den Tod seines Sohnes zu sühnen und sie aus den Klauen der Hexe zu befreien. Hruoswitha ertappte ihrerseits die Großmutter am Abend der Abreise ihres Geliebten dabei,
wie diese einen fürchterlichen Fluch in die Nacht hinaus schickte, dass der Buhle Hruoswithas nie den Weg aus dem Wald finden und elendig an den Waldgeistern zugrunde gehen solle. Als sie mir diese
Geschichte auftischte, lieber William, wurde mir dann doch ein wenig unheimlich zu Mute. Hruoswitha versuchte alles in ihrer Macht stehende zu tun um ihren Geliebten zu befreien, doch der Tag sollte
kommen, an dem sie ihn wieder fand, im Wald , in der Nähe der Hütte, durchbohrt von einem dicken Ast, der direkt durch sein Herz ging. Nun, eine passende Gruselgeschichte zur Nachtruhe und passend
zur Nacht, die hereingebrochen ist. Ein sternenloser Himmel blickt auf uns herab und die Luft umschmeichelt uns so schwül, dass sie ein nächtliches Gewitter heraufbeschwört. Oh lieber William, welch
seltsame Wege bieten uns unsere Gedanken zuweilen an? ...... ......Schnell, lieber William, verrinnt hier die Zeit. Sind meine Sinne verhext oder gibt es wirklich so viel zu tun in den Sommermonaten,
dass ich gar nicht merke, wie die Tage an mir vorüberziehen? Nein, ich scheine verzaubert, denn ich habe mich gut in das Leben von Hruoswitha eingefügt (oder vielleicht hat aber auch sie mich gut in
ihr Leben einbezogen), wir ergänzen uns auf alle Fälle wunderbar. Wir trocknen Kräuter in der Sommersonne und im Mondschein. Setzen Tinkturen an, stellen Salben und Weine her und nebenbei berichten
wir uns gegenseitig von unseren Kenntnissen. Zuweilen erinnert sie mich an meine Großmutter und an meine weltliche Zeit, bevor ich in das Kloster geschickt wurde, wo Vater und Mutter hofften, dass
der Schaden, den meine Großmutter vermeintlich angerichtet haben sollte, wieder gut gemacht werden konnte. Und vor allem abends, nach getaner Arbeit, werden die Erinnerungen wieder ganz lebendig,
wenn wir, meist vor der Hütte Seite 36sitzend, uns Geschichten und Mythen aus längst vergangenen Zeiten erzählen, und nicht nur Erinnerungen an meine Großmutter sind es, die mich einholen, auch
Bilder meines geliebten Englands tauchen wieder in mir auf. Werde ich es je wiedersehen, die gewaltigen Klippen, die dem tosenden Meer trotzen, die wundersame hügelige Landschaft, die sanft ihre
Geheimnisse einschließt? An manchen Tagen, wenn die Sonne hoch am Himmel steht und die Wolken gemächlich an dieser sagenumwobenen Landschaft vorüberziehen, scheint sie in einem mystischen Traum zu
liegen und die Anderswelt zum Greifen nah.... oh, ich schwelge in Erinnerungen, die meinem Herzen Schmerzen bereiten, und eine große Wehmut macht sich breit.. Beharrlich halte ich meine Gebetszeiten
ein; wenn ich auch zuweilen Spott damit ernte, so bringen meine Gebete mir doch Trost und Zuversicht für mein trauriges Herz und Heilung für meine Seele. Die Dorfbewohnerinnen, die, heimlich
natürlich, uns ihren Besuch abstatten, scheinen es sehr tröstlich zu finden, dass eine Frau in Christo sich hierher verirrt hat, und somit werden sie mutiger und ihre Besuche um so häufiger. Es ist
schon ein wahrlich seltsames Leben, das ich hier führe. Nein, ach, nicht nur hier! Ich habe mich entschlossen, den Winter über noch zu bleiben, denn abgesehen von Hruoswithas Unglauben lerne ich doch
viel bei ihr. Ihr Wissen über die Kräuter und deren Darreichungsmöglichkeiten scheint mir zuweilen unerreicht. ....Lieber William, ich glaube, dies war das merkwürdigste Fest, das ich je erlebt habe,
wir beide, Hruoswitha und ich, feierten, jede auf ihre Art und Weise, das Erntedankfest, und doch feierten wir zusammen. Wir haben uns zusammen einen Altar errichtet, in der Mitte steht mein
selbstgezimmertes Holzkreuz und rundherum Früchte, Blumen, Kräuter, Obst, Gemüse und eine kleine fette nackte Frauenfigur. Während ich betend vor diesem heiligen Tisch kniete, umrundete Hruoswitha
uns, beschwörungsformelnmurmelnderweise. Oh, GOTT, ich weiß tief im Inneren meines Herzens, dass DU gütig bist und barmherzig. Ich weiß, milde lächelnd wirst DU diese Szene beobachtet haben.... ...In
der Nacht hat ein jähzorniger Herbstwind an unserem Dach gezerrt, und als er gemerkt hat, dass er dort nichts auszurichten vermochte, hat er die Eiche, die hinter der Hütte stand, vor Wut gebrochen.
Ungünstigerweise stürzte sie auf unser Dach und zerstörte es fast vollständig. Kälte, Wind und eisiger Regen halten uns nun davon ab, Reparaturarbeiten durchzuführen. Was wir nur retten konnten,
brachten wir in den Stall zu den Hühnern, mit denen wir jetzt das Zuhause teilen und auf besseres Wetter hoffen... .....Das Wetter war uns hold, und so geschickt wie eine „Waldhexe“ und eine Nonne
ein Dach nur reparieren können, so geschickt haben wir uns ein neues Dach über dem Kopf gescha en. Leider sind viele Kräuter verdorben und Tinkturen ausgelaufen, ein unersetzlicher Verlust! Ich bete
für einen milden Winter. ... Hruoswitha macht mir Sorgen, ihr Gesicht verändert sich, verliert seine Ausstrahlung, und ein leichter, jedoch hartnäckiger Husten quält sie nun schon seit Wochen, sowie
der nicht enden wollende Regen. Er scheint sich in den Kopf gesetzt zu haben, uns erneut unter Wasser zu setzten. Er führt uns unsere mangelhafte Arbeit am Dach vor Augen und kriecht als Feuchtigkeit
aus der Erde hoch. ...Bei meiner Gefährtin bleibt jeglicher Therapieerfolg aus, was wir auch anstellen. Eibisch, Engelsü., Fenchel, ja sogar unser Wegerichvorrat verdarb im Regen. Der sonst so
hervorragende Seite 38Holunder bringt keine Besserung, und selbst bei Zwiebeln und Honig lacht uns der Husten nur feist ins Gesicht. Hruoswitha beginnt ein falsches Spiel mit mir zu spielen, sie tut,
als wäre der Husten nur ein lästiger Gast, der eher heute als morgen verschwinden wird. Doch ich kenne diesen Gast zu gut, als dass ich mich von ihrer Verharmlosung täuschen lasse. Er ist ernster zu
nehmen, als mir lieb ist.... ...Nun lieber William möge mir GOTT beistehen. Die Welt da draußen ist eingefroren, nichts regt sich mehr. Eine Schicht funkelnder Sterne hat den Waldboden zugedeckt.
Alles wirkt so still, so friedlich. In dieser tiefen Gelassenheit, wie sie nur der Winter zu malen vermag, kann ich mich sicher und behütet in meine Trauer hineinfallen lassen. Hruoswitha hat die
Welten gewechselt. Da sie nun glaubt, sie werde in der Anderswelt weilen, rang sie mir auf dem Sterbebett das Versprechen ab, nicht für sie zu Jesus Christus zu beten und sie nicht zu begraben, wenn
der Schnee geschmolzen sei. Stattdessen sollte ich sie verbrennen auf einer kleinen Anhöhe nicht weit von unserer Hüte. So machte ich mich dann am gestrigen Tage auf den Weg durch den Wald. Zuerst
brachte ich die Hälfte unseres Brennholzvorrates dort hinauf, sammelte große und kleine Äste und baute damit eine reelle Feuerstatt. Auf einer selbstgebauten Bahre brachte ich dann heute Morgen ihren
Leichnam dort hin. Das Wetter blieb uns hold und auch der Transport ging beinahe mühelos vonstatten. Das Entzünden des Feuers, das Brennen des Holzes, alles lief, als würden mich Mächte begleiten,
die anderer Natur sind als gewohnt. Vielleicht hat Hruoswitha ja Recht und sie beschützt von dort drüben, aus ihrer Anderswelt, meine Schritte. Ich habe mein Versprechen eingehalten und habe nicht
gebetet, aber die Feierlichkeit des Augenblickes, gemischt mit der Trauer, die mich umgab, ließ mich niederknien, und in dem Rauschen und Tosen des Feuers rief ich laut ihren Namen. Als ich ging,
ließ ich einen großen Haufen glühender Asche hinter mir. Möge GOTT ihrer Seele gnädig sein.... ...Noch gibt es einiges, das für mich hier zu tun bleibt, doch wenn der Frühling kommt, werde auch ich
diese Hütte, mein Zuhause, verwaisen lassen, wieder einmal! .. ... In den Tagen und Wochen der Einsamkeit war ich viel mit dir allein. Es herrscht zuweilen ein unbeschreibliches Gefühl in meinem
Inneren, das mich immer noch mit dir verbindet, ja, zuweilen scheint es, als würde ich in dir sein, so als würde ich aus deinen Augen schauen, als säße ich in deinem Körper, als würde ich in dir
sein, in dir, wo du doch so weit entfernt bist von mir. Nun, zumindest ist es recht offensichtlich, dass nur unsere Körper eine schier unerreichbare Distanz zu haben scheinen, denn Gefühle und
Gedanken sind so nah, so nah, William. Wir sind so nah beieinander, geht es dir genauso? .... Fasziniert von dem Einblick in die Vergangenheit, ruft William ihr gedanklich zu: „Ja, Franziska, mir
geht es genauso, ganz genauso.“ Und irgendwie hat auch er das Gefühl, als würde er Franziska trotz dieser unüberwindlichen zeitlichen Entfernung erreichen können, und sein Herz schlägt wild vor
Freude in seiner Brust. ....Und doch fehlst du mir, William, so sehr. Werde ich je die Sehnsucht nach dir überwinden können? Und auch Hruoswitha fehlt mir jetzt, obwohl sie überall hier noch ganz
deutlich um mich herum ist, in all den Sachen, die mich umgeben.... ......Der Schnee schmilzt! Die ersten Sonnenstrahlen durchbrechen den grauen wolkenverhangenen Himmel. Sie bohren sich nicht nur
einen Weg durch die Wolken, die Strahlen bohren sich auch einen Weg bis hin zu meinem Herzen und hinterlassen dort eine Spur von Hoffnung. Und nicht nur vom Himmel sondern auch von der Erde kommend
macht sich die Hoffnung breit. Es sind die ersten Schneeglöckchen, die sich erst durch den dunklen harten Boden gebohrt haben und dann durch die Kälte des weißen Schnees ihr Hoffnung spendendes Grün
und ihr strahlendes Weiß der Blüten ans Licht der Sonne brachten. Und auch diese Blumen erreichen mein Herz und stimmen es froh. Ich erwache aus meinem Winterschlaf und neues Leben durchströmt meine
Glieder. Der überstandene Winter zehrte am Leben. So lag ich meist auf meinem Lager und war entweder bei GOTT oder bei dir. Zweimal bekam ich Besuch und ging mit, hinunter ins Dorf. Als ich das erste
Mal dort ankam, wurde mir schnell bewusst, warum nicht öfter jemand zu mir kam, um Kräuter und Ratschläge zu holen, wie sich diese oder jene Winterkrankheit beheben ließe. Die meisten Menschen waren
der Kälte erlegen und jene, die noch am Leben waren, wagten sich nicht hinaus, fürchteten die Schneemassen. Ein mutiger Vater, der um das Leben seines Sohnes bangte, der mit hohem Fieber im Bett lag,
schwang sich auf und trotzte dem Schnee. Wochen später fand ich ihn erneut, halb erfroren lag er vor meiner Tür, nun war es seine liebe Frau, um die er sich sorgte, und zu Recht, wie ich sah, als wir
zwei Tage später im Dorf ankamen. Mit Gottvertrauen jedoch haben wir all das Leid überwunden, es waren auf wundersame Weise die richtigen Kräuter gerettet worden und auch die Menge war ausreichend,
die Familie mit dem mutigen Mann am Leben zu erhalten, sowie ein weiteres kleines Mädchen. Mehr jedoch konnte ich nicht erreichen. Viele Türen blieben mir verschlossen. Die Hilfe einer Nonne, die mit
einer Hexe zusammen wohnte oder gewohnt hatte, war den meisten Menschen unheimlich, und offen wollte man schon gar nicht zeigen, dass man dergleichen Hilfe je in Anspruch nehmen würde, lieber wollte
man sterben. Bei einer Familie kam ich zu spät. Als ich jedoch den Schmied erreichte, fand ich gar Hilfe bei dem Pfarrer dieser Gemeinde, der den Schmied überredete, mich einen Blick auf die Tochter
werfen zu lassen. GOTT sei gepriesen, dass ich auch mit Seiner Hilfe ihre Heilung herbeiführen konnte. Der Schmied hätte mich bestimmt des bösen Blickes bezichtigt und mich hängen lassen. Auch der
Pfarrer atmete auf, hatte er doch seine .berredungskünste mit ins Spiel gebracht. Seite 41Nun, wo sich nicht nur in der Natur wieder alles regt, sondern auch in mir, fangen meine Gedanken an, ganz
konkret um meine Abreise zu kreisen. Ich weiß, hier wäre ich wohl recht sicher, und ich weiß auch, dass Hruoswitha sich immer gewünscht hatte, ich möge, wenn die Zeit gekommen ist, hier ihren Platz
einnehmen. Doch ich spüre, auch hier werde ich nicht von meinen Sünden befreit, auch hier werde ich keine Ruhe finden, und obwohl ich mir sicher bin, dass ich diesen Ort auf meinen langen Wegen in
die Zukunft nicht wiedersehen werde und auch, dass sonst niemand einen Fuß über die Schwelle der Hexenhütte setzen wird, werde ich alles in einer ruhigen und sauberen Ordnung hinterlassen....
.....Alles ist nun bereit. Der Frühling hat seine vollen Kräfte entfaltet und meine Arbeit hier ist beendet. Johann, der mutige Vater, hatte mir geholfen, dem Dach noch eine letzte Reparatur zukommen
zu lassen. Somit saß ich warm und vor allem im Trockenen, als die ersten Frühjahrsstürme über das Land zogen, und heute Morgen brachte mir Benjamin, sein Sohn, ein Proviantbündel für meine Reise,
zusammengestellt von seiner Mutter, der Frau des Schmieds und sogar der Pfarrer soll das Seine dazu beigetragen haben. Ich lasse mich überraschen, wenn ich mich zur ersten Pause niederlasse. Nun,
liebe Hütte, lebe wohl und auch du Hruoswitha. In meinem Herzen wirst du auf ewig bei mir sein. ... Oh, William, du warst einst dieses Wunder in meinem Leben, das ich niemals zu hoffen gewagt hätte,
schon gar nicht, nachdem ich England verlassen habe. Von weitem nun erspähe ich die Alpen, majestätisch ragen sie in den blauen Frühlingshimmel und diese gilt es jetzt zu überwinden. Sie stehen mir
in meinem Weg nach Rom, wie mir meine vergangene Tat im Wege steht, ein kontemplatives Leben für GOTT zu führen. Beides, so scheint mir, kann ich nicht überwinden. Ich muss gestehen, dass ich es mir
einfacher vorgestellt hab, diese Riesen aus Fels und Schnee zu überwinden, doch jetzt beschleicht mich große Angst, denn gehe ich alleine, bin ich dem Tode geweiht, und schließe ich mich einer Gruppe
an, wird man mich da entdecken? –Ach Possen, Franziska, was schreibst du da? So groß ist die Gefahr des Entdecktwerdens nun auch wieder nicht, auf alle Fälle ist sie nicht größer denn je. Ich muss
mich schelten, denn ist es Gottes Wille, nun so denn. Ich weiß, welche Angst in mir am größten ist. Habe ich erst diese Berge überquert, sehe ich dich, lieber William, dann je wieder? Hebe ich meinen
Blick zu diesen weiß - blau glitzernden Giganten, so rufen sie mir zu: „Bleibe du auf deiner Seite, komme uns nicht zu nah!“ Der Zeitpunkt scheint also nicht gut gewählt, nach Rom zu reisen, ich
nehme mein Gefühl als eine Mahnung Gottes und bleibe. Doch wohin, GOTT, wohin? Soll ich ziellos reisen? Jedoch, ach GOTT, Wunderbarer, geleitet hast Du mich stets in die richtige Richtung und so gehe
ich nun erneut wieder meine Wege mit Vertrauen und Zuversicht und kann mich getrost von den Wundern GOTTES überraschen lassen, die ER für mich bereit hält. Hin und wieder aber, übermannt von diesem
Gefühl der Einsamkeit, spüre ich, wie Traurigkeit versucht mich zu verschlingen, am Ende jedoch gelingt es ihr nicht! Weinen, gerne würde ich so manches Mal weinen, aber ich bin zu stark und zu viel
Hoffnung ist in mir, von der ich nicht weiß, wo ich diese hernehme. Vielleicht war es die Sternschnuppe, bei der ich mir wünschte, wir werden uns nie wirklich verlieren, die mich jetzt stark macht.
Denn ich weiß mit einer tiefen Bestimmtheit, dass wir stets zusammen sind, William ...und doch scheint es so, dass Sehnsucht und Ungeduld mir die Brust zerreißt. ...Oh, liebster Bruder, seit ich dich
verlassen musste, GOTT, vergib mir. Nein, GOTT, Dir sei Dank gesagt, preisen will ich DICH, oh HERR. Von DIR kommt ja meine Zuversicht. Wie vielen Menschen bin ich schon begegnet, die nicht einen
Menschen gefunden haben, bei dem sie sich geborgen fühlen, die hoffnungslos in dieser Welt des Grauens und der Zerstörung umherirren, ohne Liebe je gekannt zu haben, ohne einen Bruder oder eine
Schwester der Seele je gefunden zu haben. Diese Seelen sind bemitleidenswert, nicht ich. Und doch, obwohl uns das Schicksal erst seit zehn Tagen getrennt hält, wünschte ich, du wärst hier, hier bei
mir, in Fleisch und Blut, würdest mich in deine Arme nehmen und den Frühling wieder in mein Herz zaubern. Jedoch der Herbst ist schon nah und schickt seine ersten Boten. Es beginnt die Jahreszeit,
Vergangenes hinter sich zu lassen, Altes auf zuarbeiten, um Platz zu schaffen für Neues. Die Zeit des Loslassens - aber wie soll ich dich loslassen, mir ist, du wärst ein Teil von mir. Dich loslassen
hieße mir meinen Arm zu amputieren, der gesund ist. Ach, William ich weiß ja, dass eine erneute Begegnung so unwahrscheinlich ist wie das Erblühen der Blumen im Winter. Alles spricht dagegen, nur
mein Herz nicht, und mir ist, als spürte ich, dass auch das deine an uns glaubt. Leider konnte ich mich nicht mehr von dir verabschieden, aber wozu auch, es wäre ja kein richtiger Abschied gewesen.
Denn als wir uns berührten, vor dem Haus auf der Lichtung, und unsere Hände nahmen, um gemeinsam dem Schrecken entgegenzutreten, da spürte ich es ganz deutlich. Ich kann nicht wirklich sagen, was
eigentlich mit uns passierte, ich wusste nur, von diesem Zeitpunkt an würde ich nie mehr richtig alleine sein, nie mehr wirklich ohne dich! Diese Verbindung hat mich so stark gemacht, dass ich weiß,
ich kann alles überwinden und alles ertragen. Und auch nur mit dir und deiner Stärke gelang es mir, das Kind von seiner Krankheit zu befreien. Jetzt, wo ich auf dem Weg bin, ein neues Abenteuer des
Lebens zu erleben und nicht weiß, was mich erwarten wird, habe ich keine Angst mehr davor, weil du existierst. (Oh GOTT, wenn eines Tages jemand anderer außer DIR diese Zeilen lesen wird, ist wohl
sehr zu bezweifeln, dass er mich versteht; aber du verstehst mich und das genügt, auch wenn man mich eines Tages dafür verbrennen sollte.) Welch Glück, dass der Vater des jetzt wieder gesunden Kindes
- du solltest sehen, wie vergnügt es auf dem Boden herum rutscht und seine neue Welt erkundet - in die nächste Stadt fahren muss, um seine Holzkohle und seine Buchweizenasche zu verkaufen, denn er
nimmt mich mit dorthin, bevor die Gerüchte Flammen schlagen und die Dorfbewohner mich mit Hilfe der Magie des Feuers als Hexe ins Jenseits zaubern. Nicht ganz unschuldig an diesen Gerüchten ist der
Inquisitor, der vor zwei Tagen dieses Dorf erreichte. So sitze ich jetzt hinter einem Stapel Holz versteckt und kann durch einen kleinen Spalt beobachten, wie die Sonne sich der Erde nähert und mir
mit ihrem Sinken das Licht zum Schreiben nimmt. Ich werde beten für dich und beten für deinen Meister. Wie verzaubert nimmt William die fehlenden Fragmente auf, die ihm zumindest die meisten seiner
Fragen beantworten. .....Durch Wind und Wetter ziehen meine Gedanken, durch Donner und Blitz. Grau legt sich der Himmel, beladen mit abermillionen Regentropfen, über das Land und taucht die Welt in
einen unwirklichen, fast mystischen Traum. Die Sonne flieht und nur das lebende Grün der Gräser belässt die Hoffnung auf neues Licht, das hinter den Wolken auf uns wartet. Der Wind ist unser Ritter,
der mit den Wolken kämpft und den Regen in eine andere Region zu vertreiben versucht. Wutschnaubend grollen die grauen Mächte am Himmel und lassen Blitze zucken, doch meine Gedanken nehmen von all
den Bildern, die das Auge ins Innere meiner selbst sendet, nichts wahr. Längst sind meine Gedanken in weiter Ferne, weit über dem Schauspiel der Natur und stehen warm und trocken an deiner Seite,
William. Doch sie können nicht die Funktion meiner Augen übernehmen. So kann ich dich nur erahnen, doch zusehen, wo du bist, ist mir unmöglich und so kommt die Sehnsucht meines Sehnens wieder zurück
zu mir und vereinigt sich mit den Bildern meiner Augen in der unwirklich scheinenden Realität um mich herum. Noch ist der Regen nicht gewichen und noch kämpfen die Mächte am Himmel ihren Kampf, und
doch können mit einem Mal Seite 45meine Ohren den fröhlichen Gesang der Vogelwelt wahrnehmen, der in ihnen widerhallt. Jedoch, trotz allem beschleicht mich ein Gefühl der Einsamkeit. Lange bin ich
über die Felder und Wiesen dieser Region gewandert und lange ist mir keine Menschenseele begegnet. Doch war ich da nicht allein, du warst in meinen Gedanken mein Begleiter, wie die Vögel und
Schmetterlinge, die Bienen und die Ameisen und die Schnecken die Begleiter auf meinem Weg waren. Als der Sturm sich ankündigte, traf ich auf einen einsamen Holzverschlag, der mich einlud, mich vor
dem drohenden Unwetter zu beschützen, und nun teilt er auch die Einsamkeit mit mir und auch den atemberaubenden Blick, der sich von hier aus bietet. Weit und offen liegt das Land vor uns und in
diesem Moment ist mir, als würde nichts existent sein außer diesem Fleckchen Erde, den Blumen auf der nicht enden wollenden Wiese, den Kämpfer am Himmel, dem Holzverschlag , den Vögeln und mir und
einer seltsamen Friedlichkeit, die sich nun über mich legt wie ein wärmender Umhang. Alles Große wird klein und all das Kleine wird plötzlich groß, bekommt eine nie erahnte Bedeutung und zeigt mir
sein ganz eigenes Leben. Mir ist, als ob die Blumen ihre Geschichte des Lebens erzählen, sie erzählen von der Dunkelheit der bergenden Erde, vom Schmerz des Aufkeimens, von der Schüchternheit der
Knospen und dem bedingungslosen Vertrauen, das sie trägt und all das überwinden läßt, sie zur Blüte bringt, das sie begleitet vom Fallen der Blätter bis hin zum Sterben, auf dass sie wieder eins mit
der Erde werden. Die Natur gibt sich der Natur hin, sie kennt keine Fragen an die Zeit. Anders als wir Menschen fügt sich Flora und Fauna in den Kreislauf der Natur ein, sind eins mit ihr. Doch die
Zahnräder der Zeit überschwemmen die großen Städte, sie haben sich durch den Orient zu uns gebissen und nur wenige erkennen den Tiger in ihnen. Der Regen weicht zurück, mit einem letzten Donner, wie
ein jaulender Hund. Die Sonne kommt triumphierend hervor und schenkt den Rittern der Winde als Siegespreis ihre schönsten Strahlen. Ein Dankgebet noch für den Holzverschlag und dann muss auch ich
weiterziehen, mit den grauen Wolken, die auf meinem Weg vorauseilen, aber, Bruder William, sei gewiss, ich gehe mit frohem Herzen, ohne das Jammern des Verlierers. ......Die Wolken ziehen an mir
vorbei wie das Leben und heute sind sie auch genau so veränderlich. Sie nehmen immer wieder eine andere Form an, sind sie im ersten Moment dick und prall, so ziehen sie im nächsten wieder
auseinander. Gleichen sie einem grimmigen großen bösen Riesen, so erinnern sie bald darauf an einen liebevollen Engel, dessen Flügel sich großmächtig über die Welt ausbreiten. Heute Morgen, als ich
den neuen Tag begrü.te, glaubte ich kaum daran, dass er gleich mit zwei Überraschungen aufwarten würde. Wie hätte ich auch ahnen können, dass du im Kloster Steinfeld bei den Pilgern zu Gast warst und
dort die Nacht verbringen würdest und so, zu meinem größten Erstaunen und meiner größten Freude, standest du wieder vor mir, gleich einem Wunder. (Deine Welt, lieber GOTT, ist so unendlich vielfältig
und doch so wunderbar klein, so dass Du mit Leichtigkeit unsere Wege stets zusammen fügen kannst nach Deinem Belieben. Sind diese Begegnungen Brosamen Deiner Liebe? Wie sehr Du doch Deine Sünder
lieben musst!) ...Oh, William, was soll ich dir sagen, was dir schreiben? GOTT gibt und GOTT nimmt und wir können nur hoffen, dass das große Rätsel Seiner Liebe uns eines Tages offenbart wird. Als
wir uns in den Armen lagen, hätte ich schwören können, nichts auf dieser Welt könne uns so schnell voneinander lösen, und doch wurde ich in dieser Nacht gezwungen, um meines Lebens willen wieder von
dir zu gehen. Du kannst es nicht verstehen, und ich befürchte, ich werde es dir nie sagen können. Ohne ein Wort musste ich von dir gehen, nicht nur um mein Leben zu retten, sondern auch um deines
Lebens willen. Beinahe wärst du durch meine Schuld in dieses grausame Spiel hineingezogen worden, ohne etwas davon zu ahnen. Es ist ein großes schwarzes Gespenst, vor dem ich fliehe, und manchesmal
befürchte ich, dass es nur in meinem Inneren existiert und gar nicht real ist, ich heimgesucht werde von einem großen Verfolgungswahn, der mich um die ganze Welt zu treiben scheint. Doch als ich nach
der Completa die Nachtruhe nicht finden konnte ob der wunderbaren Geschehnisse und dem Mond von meinem Glück abgab, ihm mit vollem Herzen zusah, wie er die Nacht mit seinen Strahlen erhellte, da sah
Seite 47ich vom Fenster meiner Zelle die Ankunft eines Mannes, dessen Leben mit dem meinem aufs Seltsamste verknüpft ist. Denn wo er das seine leben will, gewährt er mir keinen Platz für das meine.
Da er den längeren Arm der Inquisition besitzt, wurde das Gespenst für mich wieder so real und ich sah mich wieder einmal gezwungen, ihm aus dem Wege zu gehen und aus dieser Abtei zu fliehen. Aus
diesen Mauern zu fliehen, die dir im gleichen Moment liebevollen Schutz bei deinen Träumen gewährten..... Ja, und sie hatte Recht, William erinnert sich, in jener Nacht schlief er so selig, wie es
sonst nur Kindern vergönnt ist. Als er am nächsten Morgen erwachte und von der Ankunft des Inquisition Nikodemus Bartarius hörte, überschlugen sich die Ereignisse. Denn ob des Verschwindens von
Franziska ließ die Inquisition noch zur gleichen Morgenstunde die Gegend erkunden und der Inquisitor verhörte seinerseits alle Nonnen und Gäste des Klosters, die mit Franziska in Kontakt gestanden
hatten. Dies war die erste Begegnung, die Bruder William mit Nikodemus hatte. Seine Augen ruhten hart wie Stein auf William, der nach außen hin seine Ruhe und Gelassenheit bewahrt hatte, wie stets
aber tief in seinem Inneren die Sprache des Schicksals nicht verstand und völlig verwirrt die erste Begegnung über sich ergehen ließ. Nun konnte er den Verdacht nicht mehr verdrängen: Schwester
Franziska hätte ihm nicht die Wahrheit erzählt über sich und ihr Leben. Und doch spürte er die Ordensschwester ganz deutlich und liebevoll in seinem Herzen. Diese schmerzhafte Zerrissenheit, die er
in seinem Inneren fühlte, und der Wunsch nach Ordnung und Harmonie machten es ihm leicht, blind den Worten des Inquisitors Glauben zu schenken, als dieser ihm versicherte, dass sein Auftreten in
keiner Weise mit Schwester Franziska in Verbindung stand. Er hatte von ihrer Klugheit und ihrer Frömmigkeit gehört und war sehr enttäuscht, ihr nicht begegnen zu dürfen. Einzig was ihn verwirrte, war
die plötzliche Abreise, und er fragte sich, ob diese wohl etwas mit ihm zu tun hätte. Doch berufsbedingtes Misstrauen sollten ihn, William nicht beunruhigen und er hätte sich nichts zu Schulden
kommen lassen, indem er sich mit Franziska abgegeben hatte. Auch dies ließ William kommentarlos so stehen. Wenn Nikodemus nur gewusst hätte! Als die Handlanger der Inquisition am späten Nachmittag
die Abtei erfolglos erreichten, schickten sie sich auch sogleich an, diese mit vollem Gespann wieder zu verlassen. Somit war der Spuk vorbei und nur eine allgemeine Verwirrung blieb. William, der
nach dem Gespräch mit Nikodemus Bartarius seine Abreise um einen Tag verschoben hatte, versuchte seiner Verwirrung Herr zu werden, indem er in der noch wärmenden Nachmittagssonne einen Spaziergang in
der näheren Umgebung machte, und dort sollte auch er abermals überrascht werden. Von weitem erspähte William eine kleine Gruppe, die auf die Abtei zukam, und als die Personen deutlicher wurden,
erkannte er in einer von ihnen seinen alten Meister wieder, Bruder Jacob von Canterbury. Dieser befand sich in Begleitung zweier Franziskaner, die auch für William keine Unbekannten waren. Ein wenig
später konnte er beobachten, dass die Drei, gefolgt von einer Kutsche, die der Horizont nun freigab, in einer heftigen Diskussion verstrickt waren. In dieser so vertieft, schreckten sie hoch und
verstummten sofort, als William, der ihnen entgegen kam, plötzlich vor ihnen stand. Bruder Jacob war der erste, der wieder Worte fand, die seinen ehemaligen Schüler auf das Herzlichste begrü.ten:
„Bruder William, dein Anblick läßt Freude in mein Herz strömen. Komm, mein Sohn, lass dich umarmen.“ „Meister, es tut gut, dich wohlauf in den Armen zu halten.“ In die herzliche Begrü.ung stimmten
auch Bruder Jacob seine Begleiter, Bruder Martinus und Bruder Johannes freudig mit ein; beide kannte William aus seiner Heimat, so gab es viel zu erzählen. Die Kutsche hatte indes die Ordensbrüder
eingeholt, und während die Pferde im wilden Galopp an der kleinen Gruppe vorbeizogen, wurde William für den Bruchteil eines Augenblicks von einem wundersamen Gefühl heimgesucht... Mit einer knappen
Handbewegung ruft William sich wieder zur Ordnung und die Bilder der Vergangenheit ziehen sich zurück. ...In der letzten Nacht schlief ich hingegen im Wald und bestimmt ebenso sicher wie du, William.
Dennoch war es ein leichter Schlaf, da meine Ohren jedes nur kleinste Geräusch sorgenvoll inspizierten, und als dann, im Licht der aufgehenden Sonne, das Knacken nicht mehr von den leisen und
vorsichtigen Waldbewohnern stammen konnte, wusste ich sofort, die Jagd hatte erneut begonnen. Aufgeschreckt begannen meine Beine sofort zu arbeiten. Von Entsetzen gepackt klappte jedoch ihre
Koordination nicht so perfekt wie sonst und verheddert kam ich auf dem Waldboden zum Liegen. Erneut raffte ich mich auf, um starr vor Schreck wie eine Eissäule zu erstarren, denn ich bemerkte, wie
eine Gruppe von Männern sich ganz in meiner Nähe befand. Oh GOTT, hier geht es doch nicht zu Ende! Das wusste ich ganz genau. So verflog der Schreck in mir, doch nur damit sich Zorn und Irritiertheit
in einem wilden Kampf um die Vorherrschaft in meinen Inneren verstrickten, dergestalt, dass jegliche Fluchtmöglichkeit verpfuscht war. Oh, William kaum ist es mir möglich, meine Gefühle
wiederzugeben, die mich in diesen winzigen Augenblicken heimgesucht hatten, die Gefühle der Wut und der Verwirrung und auch nicht die Gefühle des Erstaunens und der Erleichterung, die mich
überfluteten, als ich Bruder Jacob gegenüberstand, dem Bruder meines Vaters, meinem Vorbild in der Tugendhaftigkeit und des Glaubens. Und große Scham stieg in mir hoch, dass ausgerechnet er mich so
vorfand, mich so erleben musste, und auch wenn ich meine Lage, so gut es eben ging, erklärte, so ließ meine Eile doch Fragen und Unbehagen zurück, das spürte ich genau. Und obwohl dieser so
wunderbare Mensch ein großes Herz hat und Verständnis besitzt für so vieles, so wusste ich doch, ich habe ihn bis ins Mark enttäuscht. GOTTES WEGE! Ausgerechnet hier mussten wir uns begegnen? Trotz
dieses so ungewöhnlichen Zusammentreffens, über das mir immer noch nur zu staunen bleibt, sobald ich daran denke (Deine Welt scheint mir wirklich zu klein, lieber GOTT), gelang es mir unbemerkt von
meinem Widersacher, so hoffte ich jedenfalls, das heilige Köln zu erreichen. Ich verlor mich sogleich in den Straßen der Großstadt, so konnte ich meine Verfolger hinter mir lassen. Doch auch in der
sicheren Wirrnis der Straßen jagte mein Herz, und als ich dann auf zwei Soldaten der Inquisition traf, schien es mir für einen Augenblick auszusetzen. In meiner Panik wusste ich Seite 50nicht, was
ich tat, so riss ich die nächstbewegliche Tür auf, um mich hinter ihr zu verbergen. GOTT ist auf meinem Weg! Als ich im Inneren des Hauses stand, überfiel mich nicht nur tiefe Dunkelheit sondern auch
eine finstere Gestalt, die mich zu Boden warf. Unverständliche Worte zischten durch die Luft, gefolgt von kurzem Gepolter und einem Schmerz, der durch meinen gesamten Leib zog. Dann herrschte Stille.
Während ich den Körper spürte, der mich mit aller Macht zu Boden drückte, schickte ich ein Stoßgebet gen Himmel, und mir schien es, dass mein so wildes Herz erneut zum Stillstand kam. Nach einer
schier ewig dauernden Zeit kam langsam wieder Bewegung in die Stille. Ich hörte erneut fremdartige Laute, die durch die Luft wirbelten, und dann wurde eine Kerze entzündet, die sich langsam auf mich
zu bewegte. Nach und nach kamen noch mehr Kerzen hinzu und erhellten den Raum. Ich erkannte vor mir einen alten Mann. Er trug einen langen weißen Bart und einen schwarzen Talar, auf dessen Schulter
ein gelber Fleck genäht war. Ganz langsam, als mein Herz wieder begann zu schlagen und mein Verstand wieder anfing zu denken, ganz langsam wurde mir gewahr, dass es sich bei diesen Menschen um Juden
handeln musste. Der Mutige von ihnen, der mich auf dem Boden hielt, war ein junger Mann von dreizehn oder vierzehn Jahren, der mich aus seinen tiefschwarzen Augen hasserfüllt anstarrte. Mein
verdutztes Gesicht muss nicht halb so interessant gewesen sein wie die verdutzten Gesichter, in die ich blickte. Rabbi Rosenboom, der durch seine wunderbare tiefe Ruhe und Weisheit als erster seine
Überraschung ob der Beute, die sie mit mir gemacht hatten, in den Griff bekam, hatte erst Samuel geboten von mir abzulassen und dann reichte er mir die Hand. Erst wusste ich nichts zu sagen, aber die
stummen Gesichter sprachen dafür von vorwurfsvollen Fragen, und sie hatten auch Recht, ich schuldete ihnen eine ziemlich gute Erklärung. Doch wild wirbelten die Worte und Gedanken in meinem Kopf.
Sollte ich ihnen eine handfeste Lüge erzählen? Mich freundlich verabschieden und ebenso schnell, wie ich gekommen war, wieder verschwinden, aber was gibt es da für eine plausible Erklärung? Ich
befürchtete, dass selbst die Wahrheit unwahr erscheinen würde. Sollte ich sagen, entschuldigen Sie, aber ich bin nur so herein gestolpert und dabei ging die Tür von ganz alleine auf, quasi wie von
Geisterhand? Es waren Juden, denen ich hier begegnete, und obwohl ich die Geschichten, die man sich über sie erzählt, für Ammenmärchen hielt, hatte ich doch ein wenig Angst. Was würden sie mit mir
machen, wenn ich die Wahrheit erzählte, und was würden sie erst machen, wenn ich log? Während mein Kopf fieberhaft nach einer Erklärung suchte, bot Rabbi Rosenboom mir erst einmal einen Platz an
seinem Tisch an. Konnte ich der Aufforderung Folge leisten, oder war ich damit schon verflucht eine der ihren zu werden? Rabbi Rosenboom setzte sich mir gegenüber und schaute mich liebenswürdig doch
unverwandt an. Ach, was soll es, dachte ich mir, als Sünderin geboren, mit Sünden befleckt lebte ich gar einige Wochen bei einer Hexe, was konnten mir die armen Juden da antun? Selbst wenn sie sich
an mir rächen würden für die Sünden, die meine Brüder und Schwestern an ihnen begangen hatten, so würde es mir doch recht geschehen, wozu dann diese lächerliche Stuhl-Frage? Also setzte ich mich, und
während des Setzens wusste ich auch schon, dass ich noch einen Schritt weiter gehen würde. Ich musste es wagen, ich musste mich ihnen anvertrauen, und ehe mir wirklich bewusst wurde, was ich da
sagte, strömten die Worte nur so aus mir heraus, und ich erzählte, in welcher Lage ich mich befand, erzählte ihnen meine ganze Geschichte. Eine Beichte, die ich ablegte, überf.llig schon so viele
Jahre. Jetzt, wo ich diese Zeilen hier schreibe, meldet sich doch ein wenig mein Gewissen, nicht, weil ich meine Geschichte den Juden erzählt habe, nein, etwas Besseres als die Wahrheit gibt es
nicht, hätte ich gar nicht erzählen können, sondern mein Gewissen nagt an mir, weil ich dir, William die Wahrheit verschwiegen habe und doch weiß, du hättest mich ebenso verstanden wie diese Menschen
hier, und mehr noch, du hättest es auch nachempfinden können. Nun wünschte ich, das Rad der Zeit in meinen Händen zu halten, um auch dir den schwarzen Schatten meiner Seele zu o enbaren. Aber,
vielleicht wird ja auch eines Tages diese Möglichkeit erneut zu mir zurückkommen, daran will ich jetzt fest glauben. Bevor Anchel und Joschuar, zwei Männer in den wohl besten Jahren, noch Einwände
erhoben, Seite 52erzählte Rabbi Rosenboom mir, welche Qualen sie durchlitten hatten, dass sie sich ebenfalls versteckt halten mussten und sie auf einen Wagen warteten, der sie aus dieser von Hass
erfüllten Stadt in die Freiheit bringen sollte, welche Freiheit auch immer auf sie warten würde. Der kleine Samuel stand an der Tür, leicht im Schatten, und doch bemerkte ich, dass Tränen in seinen
Augen standen. Für weitere Erklärungen war dann plötzlich kein Raum mehr. Eine Kutsche fuhr vor, und bevor einer der beiden Älteren noch Befürchtungen äußern konnte zur Sache meiner Person, ergriff
der Rabbi meine Hand. Oh, William, du kannst dir nicht vorstellen, wie glücklich und erleichtert ich war, denn es war jetzt auch meine Befreiung. Anchel warf mir dann, etwas missmutig, als wir im
Wagen saßen, einen dunklen Umhang zu, der meine Kutte verbarg, und erst heute Abend, wo wir weit weg von all dem Übel am Feuer irgendwo in der Wildnis sitzen, erfuhr ich, dass der Umhang einst
Samuels Mutter gehörte, die sich das Leben genommen hatte, da sie die entsetzlichen Beschimpfungen, Beleidigungen und Verfolgungen nicht mehr hatte ertragen wollen; durch diese Tat war die Familie
Rosenboom auch Ausgestoßene ihrer eigenen Sippe. Auch hier wiegt das Schicksal doppelt schwer. Ich bete für dich, mein Bruder, und danke GOTT von neuem und unermüdlich dafür, dass er mir gezeigt hat,
du existierst. ...Wir haben uns nun einem großen Tross von Juden angeschlossen, die es vorziehen, ihr Glück in einem anderen Land zu versuchen. Möge GOTT auch auf unserer Seite sein. Oh, William...
....Christus, diese Menschen mit denen ich durch die Lande ziehe, sind das wirklich Deine Mörder? Wie könnte ich diese Ansicht noch immer teilen, wo ich doch äußerlich beinahe schon eine von ihnen
bin? Innerlich fühle ich mich diesen Menschen sehr nahe. Gedemütigt und verfolgt, Seite 53vertrieben aus ihrer Stadt, aus ihrem Land. Gebeugte Seelen, die jedoch ihre Liebe zu GOTT niemals verraten
würden. Nein, Jesus, nicht diese Menschen haben Dir den Tod gebracht, nicht diese Kinder, fast verhungert und zerlumpt. Die Augen voll von Angst und leer von den geweinten Tränen. Was ist es nur, das
diesen heutigen Christen das Recht gibt, die gerechte Rache Dir, GOTT, Du Gütiger aller Gütigen, aus der Hand zu nehmen. Woher diese kindliche Maßlosigkeit, diese sündhafte Selbstübersch.tzung bei
all den Gelehrten, Bischöfen, Kardinälen, all denen, die sich durch Dich, GOTT, gesalbt fühlen, das heilige Schwert in der Hand und so tosend und wütend, wie sonst nur die Feinde GOTTES selbst ans
Werk gehen. Diesen Christen, dieser Kirche schwor ich dereinst die Treue bis über den Tod hinaus. Oh GOTT, seit ich umherreise, reißt Du den Schleier meiner Illusionen entzwei überall dort, wo ich
mir Hoffnung und Trost erhoffte; und welche Ironie, dort, wo ich sie am allerwenigsten vermutet hatte, dort schenkst du sie mir, die Hoffnung und den Trost: in der vollkommenen und reinen Liebe zu
Bruder William und in der väterlichen Fürsorge eines Rabbis. GOTTES Wege! ....Oh, William, soviel Grausames haben meine Augen gesehen, soviel Verzweiflung und Schmerz, soviel Angst und Leid, und
doch, ein wenig Hoffnung ist zurückgekehrt. Die polnische Grenze passierten wir ohne Schwierigkeiten. Doch auch hier werden die Juden, werden wir leider nicht als Freunde willkommen geheißen. Denn
trotz aller Vorsichtsmaßnahmen reist der Tod mit uns und hat eine gute Ausbeute. Doch das Leben ist zäh und alle helfen, wo sie können, und immer wieder ist es doch erstaunlich für mich, dass das
Wort Mutlosigkeit keine Bedeutung besitzt hier unter uns, hier in diesem Elend, hier in diesem Chaos, das sich so einladend präsentiert, dir zuruft: „ Komm, komm zu mir. Lasse all deinen Mut fahren
und suhle dich im Selbstmitleid, erquicke dich an dem Gedanken, dass das Gute die Welt verlassen hat, und gib dich ganz deinem selbstzerstörerischen Zorn hin.“ Nein, all dieses nicht hier. Nicht bei
diesen Menschen. Denn sobald die Schwere des Leidens in der Luft liegt, stimmt irgendeiner ein Lied an. Diese Lieder der Juden nehmen das Leid mit in ihre Töne. Nehmen die Traurigkeit mit sich fort,
lassen diese in der Ewigkeit der Hemisphäre verklingen, und in dieser schweren Schönheit kann dann erneut der Mut, die Hoffnung, ja sogar die Freude am Leben und die Fröhlichkeit wieder Einzug
halten. Selbst ich trage in meinem Herzen eins ihrer Lieder, das durch meinen Geist zieht und mir manches Mal über meine Lippen kommt. Oft bleibe ich dann staunend stehen oder halte inne in dem, was
ich tue, denke lächelnd über den Text nach und spüre die Hoffnung in meinem Herzen, die Hoffnung, die von diesem Lied ausgeht, dass nämlich eines Tages diese Nachricht die gesamte Menschheit
erreichen wird, dass sie in die Herzen aller zieht, um von dort aus gelebt werden zu können: Shema Ysrael! Adonai Eloheynu, Adonai ächad! Höre, Israel! ....- oh, höret, all ihr Menschen- ...der Herr
unser GOTT ist ein einigender GOTT! ... ....Welten habe ich neu entdeckt für mich, gesehen, verloren und hinter mir gelassen, doch Du, William, bist nicht verblasst, nicht nur, weil ich deiner
gedenke im Schein der untergehenden Sonne, nein, oft lasse ich meine Gedanken in die mir einzig noch erhaltene Welt meiner Erinnerungen ziehen. Rufe dein Bild in mir wach und umgebe mich mit dem
Gefühl für dich wie mit einem schützenden, wärmenden Umhang; es ist so wohltuend, so behaglich, dass ich die Welt, die um mich herum zerfällt, fast vergessen kann. Maria verlor heute ihr Kind, ihr
armer kleiner Körper konnte die Last nicht mehr tragen und bald darauf folgte ihre Seele GOTTES Ruf. Joshuars großer Bruder verbrannte am inneren Feuer und nun ist er allein auf dieser großen,
grausamen Welt. Wieviel Elend und wieviel Leid kann ein Mensch ertragen; wieviel, lieber GOTT, wieviel? Auch wenn ich heute keine große Hilfe war, so bin ich doch am richtigen Platz, am richtigen
Ort, meine Sünden zu sühnen und Sinnvolles zu tun. So danke ich denn, GOTT, Dir für Deine Gnade.... Seite 55....Endlich, endlich nach so vielen vergangenen Monaten erscheint Licht am Horizont.
Shalom, Chaverim, Shalom, wir haben einen neuen Platz gefunden, an dem wir bleiben dürfen, an dem wir Häuser errichten können, keine Synagogen für die Juden, aber Häuser für ihre Häupter, die uns ein
Dach über dem Kopf bieten, das Gefühl von ein ganz klein bisschen Geborgenheit und viele werden hier ein neues Leben beginnen können. Hier können wir ausruhen und aufatmen. Oh, lieber William, wo
immer Du sein magst, spüre die Freude meines Herzens. Die Freude ihres Herzens sprengt den Rahmen der Zeit, zieht in Williams Brust ein mit lauten Fanfaren und zaubert ein erlösendes Lächeln auf
seinen Mund, während sein Kopf auf den Händen ruht und seine Augen sich sanft zu einem Gebet schließen. 2.Kapitel ...Ich rufe zu GOTT, dem Allerhöchsten, zu GOTT, der meine Sache zum guten Ende führt
Er sende vom Himmel und helfe mir von der Schmähung dessen, der mir nachstellt GOTT sende seine Güte und Treue. ... Rechts und links zwei Söldner, so wird Franziska durch die Stadt geführt. Sie
selber scheint ruhig und gefasst, so erlebt sie doch jetzt die Einlösung ihrer Vorahnung. Doch Trauer steht in ihren Augen, denn nun weiß sie, sie muss versuchen, mit ihrem Leben abzuschließen.
Langsam gehen sie nun unter den Arkaden seitlich des Gerichtsgebäudes. Franziska, die ihren Blick bisher auf die modrige Straße gerichtet hatte, die aufgeweicht vom Regen wie ein schleimiger Sumpf
wirkt, wendet ihren Blick nun doch noch schnell nach oben, da sie Angst hat, in dem sumpfigen Moder ihrer Gedanken zu versinken; sie bleibt mit ihren Augen am Himmel haften, wie eine Süchtige. Der
Himmel erstrahlt noch von den Sternen der Nacht, doch lässt ein leichter Hauch von Licht erahnen, dass ein neuer Tag anbricht. Sie hatte sich vorgenommen, nicht zu weinen und gelassen ihre Strafe
anzutreten, denn die Jahre zwischen ihrem Vergehen und ihrer Festnahme waren geschenkte Jahre, und Dankbarkeit sollte sie erfüllen, nicht Angst. Doch nun, da sie den Himmel sieht und ihr bewusst
wird, dass es vielleicht das letzte Mal ist, dass sie ihn erblicken wird, da kann sie sich ihrer Angst nicht mehr erwehren. Die Söldner hatten sie bisher nur geleitet aus Achtung vor ihrer Stärke und
Gelassenheit, die sie zeigte, aber nun, da sie sie mit einem Male schreien hören, müssen sie Franziska doch ergreifen, zum einen, damit sie nicht stürzt, und zum anderen, damit sie nicht davonlaufen
kann. Doch fliehen hatte sie nicht gewollt, und ihrem Verstand ist es unbegreiflich, wie sie sich so hatte gehen lassen. Da kann sie dann auch den Ausbruch in einen Zusammenbruch verwandeln.
Franziska sackt zwischen den Söldnern zusammen und lässt sich das letzte Stück wie ein halbtotes Vieh zum Eingang des Kerkers schleifen. Das wenige Licht, das im Inneren herrscht, nimmt ihr das Licht
der Sterne und der Hoffnung. Jedoch haben ihre Fü.e den Boden wieder gefunden, und als die Söldner stehen bleiben, konzentriert sie ihre Augen auf die Szenerie, die sie umgibt. Sie steht vor einem
dunklen schlichten abgenutzten Eichentisch, auf dem einige Papiere unter dünnen dreckigen Fingern liegen. Daneben versuchen ein paar Kerzen Licht in die Dunkelheit zu bringen. Langsam fährt ihr Blick
an der schwarzen Gestalt, die zu den schmutzigen Händen gehört, entlang, um das dazugehörige Gesicht zu mustern. Es ist ein nichts sagendes Gesicht mit kleinen dummen Augen und einem dünnen Mund, der
sich nun zu öffnen beginnt.„Franziska, ehemals Ordensschwester aus Polperro, England, entspricht das der Wahrheit?“ Einer der Söldner stößt sie unsanft in die Seite und sagt mit einem süffisanten
Grinsen: „Los, lass eine Antwort hören,....Nonne...“, er lässt Verachtung in seiner Stimme mitschwingen. Unsicher zuckt Franziska zusammen und verschränkt die Arme über ihrer Brust, so als würde sie
sich selber in den Arm nehmen wollen. Atmet tief durch und gewinnt ihre alte Fassung vollends wieder, so dass sie mit fester Stimme die Frage bejahen kann. „Dies ist noch nicht das eigentliche
Verhör, doch rate ich dir wohl, mir zu antworten ohne Täuschung, Falschheit und Wortverdrehung. Auch wird es schlecht um dich stehen, benutzt du Wortwiederholungen. All das wird dir nichts nützen....
Jetzt ist auch noch nicht die Zeit, dich nach dem Glaubensbekenntnis des Athanasius zu befragen, von dem du zweifellos Kenntnis besitzt. Den ganzen Glaubensschwur sparen wir uns auf für die
Öffentlichkeit.“ Der Gerichtsvikar, Bruder Antonio, macht eher den Eindruck, als würde er mit sich selbst sprechen, doch dann atmet er schwer gelangweilt auf und schaut Franziska in die Augen:„Du
wirst beschuldigt der Hexerei, der Blasphemie und der schlimmen Ketzerei. Bekennst du und ersparst uns Zeit und Müh?“ Den Blick wieder abgewendet, wühlt der Vikar teilnahmslos in den Papieren vor
sich. „Nein! Selbstverständlich nicht. Ich liebe Gott und diene ihm, so lange ich lebe, wie könnte ich ihn lästern? Wer beschuldigt mich dessen?“ „Das steht hier nicht zur Debatte. Du leugnest also,
dass du gottesfürchtige Mönche verführt hast?“ „In Gottes Namen, ja. Wer beschuldigt mich dessen?“ „Erkennst du diese Tasche als die deine an?“ „Ja, aber......“ „Was ist dann mit den Kräutern, die
wir darin gefunden haben?“ „Es sind Heilkräuter, ich bin eine Medizinkundige. Mein Vater war ein hoch angesehener Medikus und hat...“ „Hexenkräuter! Oder willst du abstreiten, dass man einen bösen
Zauber treiben kann mit Kinderfett, Mohn, Nachtschatten, Cichorie und Schierling“ - und mit diesen Worten nimmt er die Drogenbeutel mit ausladenden Handbewegungen aus ihrer Tasche. „Alles
Ingredienzien für die Flugsalbe!“ „Nur besitze ich kein Kinderfett“ antwortet Franziska mit großem Erstaunen, und langsam wird sie von der quälenden Unruhe befallen, die ein in die Ecke getriebenes
Tier verspüren müsste. „Also weißt du, dass diese Kräuter zur Herstellung der Flugsalbe benötigt werden?“ „Nein, woher?“ „Weil du eine Hexe bist.“ „Das ist eine Lüge, wer beschuldigt mich dessen? Ich
bin eine Medizinkundige. Der Mohn, Papaver somniferum genannt, wirkt schmerzstillend und beruhigend....“ „Aber auch tödlich, oder willst du das bestreiten, du manichäisches Weib?“ Laut und hart nimmt
die Stimme des Gerichtsvikars nun den Raum ein. „Natürlich nicht, doch bei jeder Droge kommt es auf die Dosis an. Auch Salanum kann tödlich wirken, aber in der richtigen Dosis eingenommen, ist er
sehr wohltuend bei der Gicht sowie bei Flechte und hartnäckigen Furunkeln. Das Salanum nigerium.“ Bei diesen Worten nimmt sie eines der Säckchen an sich, um dieses zu öffnen. Während die Söldner ihr
Grinsen verlieren und erschreckt zurückweichen, bleibt der Gerichtsvikar, gelassen, und als die Beeren des Schwarzen Nachtschatten auf den Holztisch purzeln, übertr.gt sich der Gleichmut Antonios
auch wieder auf die Erschreckten. Der Zwischenfall jedoch hat auf Franziska eine beruhigende Wirkung, da sie sich ganz in ihrem Element befindet. „Das Salanum nigerium wirkt ganz hervorragend bei
Fieber und nimmt jeglichen Schmerz. Zichorie, die Wegwarte, Cichorium intybus ergibt mit der Petersilie zu gleichen Teilen gemischt und als Tee zubereitet einen harnfördernden Trank, der auch ganz
ausgezeichnet auf die anderen Säfte im Körper wirkt und somit das Blut reinigt. Die frischen Blätter der Wegwarte auf hitzige Geschwüre gelegt, mildern die Schmerzen und die Wurzel klein geschnitten
und mit Gerstenschmalz gekocht .........“ „Sagt mir, wie kommst du an das so begehrte Kraut heran.“ „Ich verstehe nicht ganz.“ „Wie es bei den Franken heißt, wirkt es nur, wenn es mit einem Goldstück
ausgegraben wird, unter der Anrufung der Dreifaltigkeit. Da du offensichtlich einem Bettelorden angehören willst, frage ich dich, wie kommst du an das Goldstück?“ „Ich verstehe! Ich habe es anders
gelernt, ich komme nicht aus dem Frankenland sondern aus Britannien, wenn ihr euch erinnert und wie ihr unschwer an meiner Aussprache heraus hören könnt, und in der Gegend, aus der ich komme, reicht
das Gebet:„ Im Namen Gottes, des Vaters, habe ich dich gesucht, im Namen Gottes, des Sohnes, will ich dich aus der Erde graben, Gott der heilige Geist sei dir hold und geb’ dir Macht und Kraft, dass
es mit dir gelingen muss zu allen Dingen, dazu ich dich gewinne und bitte dich edle Wurzel Wegwart, bei Gott dem Vater, dem Sohne und bei Gott dem heiligen Geist, dass du deine Kraft und Macht und
somit deine Tugend auf keinerlei Weg und Weis in der Erde lässt, mit welcher dich Gott der Allmächtige geschaffen hat, dass du mir alle deine Gewalten bringst im Namen des Vaters, des Sohnes und des
heiligen Geistes. Amen!“ „Amen...... Ein sehr beeindruckendes Zitat, doch es reicht nicht aus,“ spöttisch sieht er sie an, „ich muss dich enttäuschen, auch mir ist dieses Gebet bekannt und es heißt:
Im Namen Gottes des Vaters...,“ bei diesen Worten erhebt der Vikar sich langsam, und während er weiter spricht, verschwindet seine verdorbene Haltung und seine Statur erlangt trotz der Dürre eine
Furcht einflößende Erhabenheit und mächtig hallt seine Stimme im Gemäuer...: „ ....habe ich dich gesucht, im Namen Gottes des Sohnes will ich dich aus der Erde graben und ich berühre dich, du edle
Wurzel, mit Silber und mit Gold, und somit ist meine Frage nicht zur genüge beantwortet!“ Mit einem dumpfen Knall landet der Körper wieder auf seinem Schemel und die Magie seiner Erhabenheit ist
verschwunden. Mit einem breiten Grinsen schaut er Franziska triumphierend an. „Im Namen Gottes und des heiligen Sohnes zählt Gold gleich wie Erde. Jesus schwor allen Besitztümer ab und meint ihr
etwa, dass eine Pflanze da Gewicht auf Gold und Silber legt?“ „Es ist klar, dass du die heilige Kirche und ihre Besitztümer angreifen willst.“ Erregung zeigt sich nun in der Stimme ihres Anklägers,
doch freundlich lächelnd mit einer Priese Ironie erwidert Franziska:„Wir wollen doch nicht ein päpstliches Dekret zum Gegenstand dieser Unterhaltung machen?“ Etwas belustigt zieht sie dann auch eine
Augenbraue in die Höhe, da ihr Gegenüber sichtbar nach den passenden Worten sucht. Dabei fühlt sich Franziska an Williams tanzende Augenbraue erinnert, wenn er andere in einer Schlacht der Wörter
besiegt hat, und ein leises Lächeln huscht über ihr Gesicht und schenkt ihr für eine flüchtige Sekunde ein Gefühl des Glückes und der Geborgenheit. Doch wahrlich, zu flüchtig ist diese eine Sekunde
und das Lächeln vermag sich nicht zu halten, denn da hat der Gefragte die passenden Worte für eine Antwort gefunden und brüllt sie ihr ins Gesicht. „Die Frage, ob Jesus Geld bei sich hatte oder
nicht, will ich weiß Gott nicht mit dir debattieren, Weib, doch zeigt mir deine Meinung, auf welcher Seite du stehst, und wenn Jesus kein Geld bei sich trug, dann nur deswegen, weil er keines
benötigte, er, der Sohn Gottes. Und ebenso unnötig waren für ihn die Heilpflanzen, denn...“ „Belehrungen dieser Art spare dir für Unwissende. Doch Jesus brachte seine Jünger dazu, ihre Besitztümer zu
verschenken, um das Vertrauen in Gott zu mehren, und genauso tat es auch der heilige Franziskus und daher ist es doch auch recht offensichtlich, auf welcher Seite ich stehe,“ dabei breitet sie kurz
ihre Kutte auseinander und senkt den Kopf. Als sie den Kopf wieder erhebt, setzt sie mit fester Stimme hinzu „ ....und daraus habe ich als Klarissen auch nie ein Geheimnis gemacht.“ Unbeeindruckt
lächelt der Gerichtsvikar, nun wieder seiner selbst ganz sicher. „Ja, ja und die Grenze zur Blasphemie ist durch diesen Zustand doch sehr verschwommen.“ „Die Minderenorden werden vom Papst
akzeptiert.“ Franziska spürt leichte Wut aufkommen, die durch die Emotionslosigkeit des ihr gegenüber Sitzenden nur noch verstärkt wird. „Die Haltbarkeit der Akzeptanz ist nur noch eine Frage der
Zeit, und ich glaube auch nicht, dass diese Akzeptanz eine Frau einschließt, die heimatlos die Gutmütigkeit der Klöster ausnutzt, um sich dort durchzufressen, eine Frau, die durch ihr ganzes
Verhalten die heilige Kirche besudelt und die Mönche von ihrem rechten Pfad abbringt, eine Frau, die in den Gewändern einer sittsamen Nonne umher läuft, obwohl ihr Inneres so schwarz und so verdorben
ist wie das einer Hexe.....“ Jetzt hat er sich in Rage geredet und Franziska wird mit jedem Wort kleiner und verzweifelter. „ ....Du bist doch in Besitz von Eisenkraut, das ihr Hexen bei der
Botonomantie benutzt, das musst du doch wissen.“ Die Verzweiflung hat ihr Ziel noch nicht ganz erreicht, denn Franziska sammelt sich ein letztes Mal und kämpft. „Ich persönlich verwende Verbena
officinalis nicht, um in die Zukunft zu sehen, sondern ich gebrauchte es zum Schutze vor der Ansteckung, als ich in Florenz die Pestopfer pflegte; und auch später, als ich ihren Spuren folgte,
leistete das Eisenkraut hervorragende Dienste zur Bewältigung von Ängsten und Niedergeschlagenheit im Gemüte sowie bei Schwäche. Und gleichwohl wirkt es bei Geschwüren und Sodbrennen, und da es
schweißtreibend ist, senkt es auch das Feuer im Körper und löst gar sämtliche Verkrampfungen auf.“ „Der Träger dieses Krautes macht sich auch bei allen beliebt und du willst doch nicht vor mir
leugnen, dass du deine Kräuter fortwährend bei dir trägst.“ „Wenn ich die Kräuter ständig bei mir tragen würde, frage ich euch, warum habt ihr sie dann in euren Händen, und wenn es die Wirkung des
Eisenkrautes ist, die beliebt machen soll, dann kann ja wohl nicht von Hexerei die Rede sein.“ „Da du bei der Botonomantie sofort auf das Eisenkraut verweist, also über die Wirkung des Krautes
Bescheid weißt, wird das Tragen der Pflanze zur bewussten Manipulation und somit zur Hexerei.“ Unfassbar steigt die Wut in Franziska hoch und schreit ihrem Peiniger die Worte ins Gesicht. „Ihr habt
mir von dieser zu bezweifelnden Wirkung berichtet. Ihr haltet das Kraut gerade in den Händen und ihr seid in meinen Augen nicht ein bisschen beliebt.“ „Durch die Tatsache, dass du versuchst, dich mit
Wortklaubereien zu verteidigen, lenkst du die Schuld nur noch stärker auf dich.“ „Das ist eine Lüge und das wisst ihr. Ihr versucht den Sieg mit Wortklauberei an euch zu reißen.“ „Da ist nun noch der
Baldrian.“ Gelangweilt verdreht Bruder Antonio bei diesen Worten die Augen, lehnt sich zurück, schaut angewidert zur Seite und spuckt auf den Boden. Er hasst laute Frauen und wirft Franziska einen
neuen Aufhänger zu in der Hoffnung, sie würde sich bei den Erklärungen der Wirkungsweisen wieder ein wenig beruhigen. Diese jedoch greift das Thema auf, um sich mit dem Aberglauben zu verteidigen,
mit dem sie angegriffen wird. „Wäre ich eine Hexe, würde ich Baldrian ausgesprochen ekelerregend finden und könnte es nicht einmal in den Händen halten, da es den Teufel ausräuchert und Hexen
vertreibt. Es hing über so vielen Türrahmen, die ich durchschritt, die ich durchschreiten konnte, ohne dass sich das Kraut auch nur für einen Hauch in Bewegung setzte oder mir vor Ekel schlecht wurde
und das ist der Beweis für meine Unschuld, das könnt selbst ihr nicht in Frage stellen.“ „Der Verzweifelte, zurecht Beschuldigte versucht immer krampfhaft den Spieß, der ihn zu durchbohren droht,
herumzureißen. Von einer wie sagtest du noch? Medizinkundigen? hätte ich eine geistreichere Antwort erwartet.“ Franziskas Sinne drohen zu schwinden, doch durch tiefes Durchatmen gelingt es ihr,
standhaft zu bleiben, und ein erneut tiefes Durchatmen nimmt ihr die Schmerzen aus ihrem krampfenden Herz, nimmt ihr die Stiche aus der Brust. Ein neuer Versuch, der Kampf ist noch nicht zu Ende!
„Ihr seid also enttäuscht? ...“ leise und matt klingt ihre Stimme, doch jeder weitere Atemzug erinnert sie an das Leben. „ .... demnach glaubt ihr auch nicht an die Anschuldigungen, die mir
entgegengebracht werden, das ehrt euch. Ich will euch sagen, wofür ich Valeriana verwende, es wirkt in einigen leichten Fällen gegen die Pest und die Wurzel, in Wein vermischt eingenommen, beseitigt
Seitenweh, nimmt Blähungen, treibt den Harn und am Abend in die Augen geträufelt verleiht es einen klaren Blick!“ Der Gerichtsvikar vor ihr läßt einen lauten Rülpser von sich und bezeugt damit nicht
zum ersten Mal seine Langeweile. Wütend stürzt Franziska nach vorne, knallt mit ihren Handflächen auf den Tisch und schreit:„Ich bin eine Medizinkundige, ihr könnt mir nichts anhaben, aufgebauscht
mit Aberglaube sind eure Beschuldigungen wie auf Sand gebaut und ich werde sie zunichte machen. Ihr lullt euch in eurer Gleichgültigkeit ein und versteckt dahinter nur eure Angst.“ „Angst? Angst vor
dir, weil du eine Hexe bist oder Angst – ja, vielleicht habe ich Angst- Angst, du bringst uns den Schwarzen Tod, von dem überall berichtet wird, vielleicht hast du ja sogar die Pest auf die Erde
gebracht, äh ...“ und mit einem Gesichtsausdruck zwischen Abscheu und Langeweile sagt er zu den Wachen: „Schafft die Hexe in die Zelle, ich hasse kreischende Weiber.“ spricht´s und erhebt einen
Weinkrug, der neben ihm auf den Boden gestanden hatte, nimmt einen kräftigen Schluck und entlässt erneut einen befreienden Rülpser. Franziska wird unterdessen von den Soldaten einen langen dunklen
Gang entlang geführt, und hier auf diesem Weg zur Zelle spürt sie zum ersten Mal die Sinnlosigkeit ihrer Verteidigung, spürt ihr Schicksal, dass unumstößlich seinen Lauf nimmt. Weggesperrt in dieser
dunklen Zelle fühlt sie, wie heiße Tränen an ihren Wangen herunterlaufen. Ihr ist, als würde sie den Boden unter sich verlieren, und doch bleibt dieser fest, nur ihr Verstand verliert sich in der
Endlosigkeit und wie ihre Tränen verrinnt die Zeit. Plötzlich wird es hell. Vom Licht geblendet wendet Franziska ihre Augen wieder der Dunkelheit zu. Sie kauert auf dem mit Stroh ausgelegten Boden in
der hintersten Ecke ihrer finsteren Zelle. „Schwester Franziska...“ Bei diesen Worten dreht sie sich wieder dem Licht zu und versucht ihre Augen an den Wechsel zu gewöhnen. Sie erkennt eine schwarze
hochgewachsene Gestalt hinter dem Licht, doch die Gesichtszüge bleiben im Dunkeln verborgen. Sie hört, wie der Mann zu dem Wärter spricht. „Es ist gut, du kannst mich jetzt mit ihr alleine lassen.
Ich werde dich rufen, wenn ich deine Dienste wieder benötige.“ Dann geht dieser auf Franziska zu, immer noch mit dem Schatten im Gesicht. Er redet beruhigend auf sie ein: „Ihr braucht keine Angst zu
haben, ich will nur mit euch reden, ihr könnt mir alles erzählen.“ Er macht eine Pause, um den Satz wirken zu lassen, bevor er das Wort wieder ergreift. „Bitte, erzählt mir alles. Ich möchte mir ein
Bild von euch machen. Auch ihr sollt die Chance erhalten, eure Stimme gegen die Vorwürfe, die euch belasten, zu erheben.“ Franziska, die in ihrer Haltung erstarrt ist, zweifelt ob der Worte, die in
ihre Ohren dringen und bleibt still vor Angst. „Ich bin der Bischof hier, vertraut mir, keinem passiert etwas, ist er nicht wirklich schuldig, und ist er schuldig, kann er immer noch bekehrt werden.“
Durch die Stimme des Bischofs breitet sich eine Stimmung der Ruhe über die angsterfüllende Stille in Franziska aus. „Glaubt mir bitte, ich werde eure Seele wieder auf den richtigen Weg führen, habt
keine Angst mehr.“ Die Worte klingen so angenehm und beruhigend, dass sie Franziska aus der Starre befreien, sie aus der Furcht führen, in die Gelassenheit hinein, und Franziska, dadurch mutig
geworden, steht langsam auf. „Bitte, Bischof, zeigt mir euer Gesicht, damit ich sehen kann, was ich höre, ob eure Augen die Wahrheit eurer Worte bestätigen.“ Der Bischof kommt ihr jetzt ganz nahe und
die Fackel, die er hoch hält, erhellt ihre Gesichter und erhellt auch ihre Erinnerungen, und lässt diese in ihrem schönsten und schrecklichsten Kleid erstrahlen. Sekunden verstreichen, die zu Jahren
werden, zu gelebtem Leben und beide starren sich an, verloren in der Zeit. Gefühle, Bilder, Emotionen, Eindrücke, das ganze gelebte Leben verbindet sich in diesen Sekunden zu einer geballten Ladung,
drängt sich durch ihre Körper und da erkennen sie sich, Franziska sieht mit Entsetzen ihren alten Widersacher, den Inquisitor Nicodemus, vor sich und Nicodemus erkennt in Franziska seine Erzfeinde.
Da bricht die Vergangenheit aus ihm heraus, wie ein Blitz, der jetzt den Sekunden die Zeit raubt, und mit dem gleichen Blitz war auch die erste Begegnung, die Nicodemus mit Marie hatte, der Frau die
sie beide aus ärgste verband. „ .....Sie war für mich alles, die Welt,. ... ihr Atem, ihre Bewegung. Jedes Wort von ihr sog ich in mein Innerstes und es wurde ein Teil von mir, ganz und gar. Du wirst
nicht verstehen können, was ich meine,....“ spricht er zu Franziska gewandt, und dann weiter:“... nie kann ein anderer diese Erfahrung machen, wird nachvollziehen können, was ich meine. Buchstaben,
Worte, Sätze ... nichts kann es beschreiben, unsere Sprache ist viel zu begrenzt, um auszudrücken, was ich empfunden habe, was ich empfinde.“ Die Worte fließen nur so aus Nicodemus heraus, unbewusst.
Franziska nimmt diese Worte auf, unbewusst. Wie in einer Vision bilden Nicodemus Worte Bilder in ihrem Inneren, und mit jedem weiteren Bild sinkt ganz langsam ihr Kopf. „Mein Leben. Ich wusste vom
ersten Moment an, dass sie mein Leben bestimmen würde. Wir wuchsen zusammen auf. Wie ein Kind seiner Mutter hinterher lief, so lief auch ich ihr hinterher und in Momenten, in denen sie mich wahrnahm,
zuckte ich zusammen und war nicht mehr Herr meiner Sinne. Ich tat alles für sie, alles. Ich liebte diese Frau. Wir hätten unser Leben miteinander teilen können, ich weiß, wir wären glücklich
geworden, weil ich sie glücklich gemacht hätte. Aber dann tauchte dieser andere auf, dieses Nichts von einem Mann. Er tat nichts im Vergleich zu mir, er war einfach nur da und zerstörte unser Glück.
Er war eine Ausgeburt der Hölle, hässlich anzusehen, doch sie, meine Göttin, war wie umgewandelt. Ich konnte es kaum glauben und ehe ich mich versah, waren die beiden verbunden. Er, ein Mann aus
edlem Hause. Ihre Eltern waren selig, einen solchen Mann für sie gefunden zu haben. Mich,.... ha,.... mich hätten sie nie akzeptiert. Ein Bastard war ich, meine Mutter konnte oder wollte mir den
Namen meines Vaters nicht sagen.... Vielleicht fließt in meinen Adern ja auch blaues Blut. Ist es nicht möglich? .....Es ist doch üblich so. Feine Herren nehmen sich eine arme wehrlose Frau, wann
immer sie wollen.....“ Nicodemus macht eine Pause, als überlegte er, ob dieses gebaute Gerüst der Wahrheit entsprechen könnte. Doch dann besinnt er sich.:„ Durch die niedere Herkunft meiner Mutter
ist es nur beschmutztes Blut,...dreckiges Blut, das hier drin mein Herz in Bewegung hielt, vielleicht hellblau, doch beschmutzt bis zum Zeitpunkt da GOTT mich berührte. Nachdem Marie für mich
verloren schien, lief ich davon. Doch ich schwor wiederzukommen und ich schwor, dass dieser Spross aus gutem Hause, dieser Pfau von einem Idioten dafür bü.en würde, dafür, dass er mir Marie nahm.
Denn sie.... sie gehörte in meine Arme. Der Schmerz meiner Seele hätte die ganze Welt zerstören können, doch da wurde mir klar, außerhalb der Kirche gibt es kein Heil, und als ich mich vor die Tore
von Wells schleppte und die Kathedrale majestätisch auf mich hernieder blickte, da spürte ich es, ich spürte die Hand GOTTES! - ........ GOTT hat mich berührt und durch seine Gnade hat er mich zu
seinem Werkzeug gemacht. GOTT und die heilige Kirche förderten meinen Wissensdurst und meinen Tatendrang für die Gerechtigkeit, GOTTES Gerechtigkeit...“ „ Nicodemus ... GOTTES Gerechtigkeit hat doch
nicht den Drang zu Zerstören, GOTTES Gerechtigkeit ist die Liebe und ist das Leben..“ „Schweig!“ Scharf wie ein Schwert zerreißt das Wort den Faden von Franziskas Worten. „Rede nicht über Dinge, die
du nicht verstehst. Er hat mir diese Position gegeben und du liegst hier vor meinen Knien und wirst um Gnade winseln. Ist es nicht so? Wer von uns befindet sich in einer besseren Position? Das Leben
gibt mir Recht!“ „Die Energie deiner Liebe hat dich in falsche Bahnen gelenkt.“ „Du redest von falschen Bahnen, wo doch die Todsünde einer Mörderin auf dir lastet? Du redest von falschen Bahnen, wo
ich der Bischof bin und du eine zum Tode Verurteilte?“ „Ihr redet von Mord, wo doch eure Hände mit Blut verschmiert sind und euer Gewand getränkt ist mit dem Lebenssaft der vielen, die ihr im Namen
GOTTES habt hinrichten lassen. Im Namen welchen GOTTES auch immer ihr gehandelt haben mögt, der einzig wahrhafte GOTT hat euch nicht begleitet, denn er ist der GOTT der Liebe, der...“ „ .... Spar mit
Worten, die dich nur verspotten und dich der lächerlichen Naivität preisgeben. Was wisst du schon von GOTT, außer diesem kindischen Geschwafel und.......“ plötzlich bricht Nicodemus mitten im Satz ab
und ringt nach Luft. Das sprachlose Nichts legt sich wieder auf ihre Stimmbänder und nichts bleibt zurück außer einem Gefühl der Leere und der Schatten ihrer selbst, der sich auf die erstarrten
Gestalten legt. Dann, nach einer Weile, zieht durch Franziska die Resignation mit dem Zittern der Angst und löst das Nichts ab. „Nicodemus ....“ Nicodemus, der jetzt gefangen genommen wird von der
Faszination des Schicksals, ringt erneut nach Worten. „Eure Augen sehen alt aus, Nicodemus.“ Die Angst ist die Mutter dieser Worte, verantwortlich für die Floskel, die sich durch Franziskas Mund
entringt. „Und müde bin ich geworden“, sagt der Angesprochene und fügt hinzu: „Ich hätte nicht gedacht, dass ich euch jemals erreichen könnte. Ihr habt euch gebärdet wie eine glitschige Schlange in
meiner Hand. Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass der Tod euch so lange verschonen würde.“ Bei den letzten Worten des Bischofs, schleicht sich ein seltsames Gefühl durch seine Glieder bis hoch
in seinen Kopf. „Die Müdigkeit hat euer Gesicht nicht erreicht, das Leben hat keine Spuren hinterlassen, ihr seht immer noch gut aus.“ „Ich finde keine Worte, euch ein Kompliment zurückzugeben,
außer, dass ihr für mich der Triumph meines Lebens seid. Nachdem ich so viele Jahre lang nach euch getrachtet habe und ihr beinahe ein Leben lang vor mir geflüchtet seid, habe ich gewonnen...... Ja,
ich habe gewonnen und Gott gab mir die Macht dazu... Diesen nicht enden wollenden Kampf, ich habe ihn gewonnen...“ seine Stimme droht sich zu überschlagen. „Das Schicksal präsentiert euch auf einem
Silbertablett. Ich wusste, dass die Gerechtigkeit siegen würde, ich wusste, eines Tages werde ich gewinnen.“ Und nun vollständig von seinen Gefühlen überw.ltigt lacht Nicodemus laut auf. „Viel Zeit
ist vergangen. Lasst mich nicht sterben, ohne zu wissen, wie ihr auf meine Spur gekommen seid. Was geschah, als ich weggegangen bin.?“ „Du bist nicht gegangen, du bist geflohen, geflohen vor mir. Das
wurde mir klar, als ich so langsam hinter das Geheimnis kam. Ich kehrte zurück in die Stadt aus Sehnsucht, aus Sehnsucht nach ihr, Marie.“ Das letzte Wort bringt er mit so viel verzweifelter Kraft
heraus, dass man hätte meinen können, er würde sie rufen. „Franziska, du wirst nie verstehen, wie sehr ich diese Frau geliebt habe. Ich kam zurück, weil ich sie sehen musste, und dein Verschwinden,
Franziska, dein Verschwinden ermöglichte mir dort zu bleiben. Welch Hohn des Schicksals muss es für dich sein, allein nur deine Flucht machte mich auf das Geheimnis aufmerksam und deine Äbtissin bat
mich, dieses Rätsel zu lösen.“ „Ich hätte also weiter nichts zu machen brauchen als einfach gar nichts zu machen?“ Der Hohn des Schicksals spiegelt sich in Franziskas Augen wieder. „Ja, ich müsste
jetzt sagen, dass es mir Leid tut, aber deine Ungläubigkeit und Verzweiflung genieße ich mehr als alles andere. GOTT lässt uns wirklich seltsame Wege gehen, nicht wahr?“ Nicodemus hebt bei diesen
Worten versonnen den Blick und schaut zu dem kleinen Loch in der Wand empor, das die einzige Verbindung mit der Außenwelt darstellt, und als ob er in diesem kleinen Stück Himmel die Erinnerungen in
Bildern wiederfindet, fängt er ganz unmotiviert an zu erzählen. „Sie war eine so wunderschöne Frau, ihre Anmut, ihr Strahlen, alles an ihr brachte mich aus der Fassung, wie eh und je. Als ich ihr
wieder begegnete, vergaß ich alles, alles um mich herum. Die ganze Welt, mein Gelübde, ihren Mann, meine Stellung, ihre Stellung, einfach alles.“ Nun wendet er den Blick auf Franziska zurück, und als
ob die Bilder der Vergangenheit wieder vom Fenster verschwunden sind und die Realität ihn eingeholt hätte, versteinert sein Gesicht und wird aschgrau und finster. „Meine Untersuchungen ergaben, dass
ihr eng befreundet ward, so kam ich auf Marie, und durch deine Flucht gabst du mir die Möglichkeit, wieder bei ihr zu sein. Von dem Tage an trafen wir uns täglich, ich musste sie ja verhören. Und
keiner hält meinen Verhören stand, keiner...“ „ ...Ja, euer Ruf eilt euch voraus, denn Zerstörung lasst ihr hinter euch, wo ihr auch ward. Mit dem Gesicht eines Engels bringt ihr den Tod.“ „Nein, wie
hätte ich sie töten können? Sie, die Liebe meines Lebens, nein, kein Haar hätte ich ihr krümmen können, nicht eines von dieser wunderbaren Pracht, für einen Frevler hätte ich mich gehalten.“
Plötzlich schreit er: „Sie hat es sich selber genommen, ihr Leben............ mein Leben“ und wie eine Schlange zischt er hinterher: „und sie starb durch deine Schuld, wie auch ich starb in diesen
Moment, als sie sich vor meinen Augen erstach.“ Franziska weicht mit Entsetzen vor dem Entsetzen, das ihr entgegen prallt, und Nicodemus setzt etwas ruhiger geworden hinzu: „Nachdem sie mir von
meinem toten Kind erzählt hatte und von dem Übel, das du über uns gebracht hast, holte sie ein Messer aus ihrem Gewand und stach sich mitten ins Herz. Wärst du nicht gewesen, wäre dieses Kind noch am
Leben, mein Kind, und auch sie, auch sie wäre noch am Leben.“ Leise mit zitternder Stimme antwortet Franziska, nachdem sie Nicodemus Augen erblickt hat.: „Liebe kann verrückt machen.“ Langsam und mit
dem gleichen Zittern erwidert dieser: „Das vermag die Einsamkeit auch.“ Und aufs Neue, aufgewühlt von seinem Inneren, bricht es aus Nicodemus heraus:„Die Liebe schreit vor Wut in mir, weil sie die
Erfüllung nicht gefunden hat, weil sie nicht gelebt werden konnte. Aufgefressen von meinen Gefühlen, steht nur noch ein Skelett meiner Selbst vor dir und klagt dich an.“ „Aber sie hat euch doch nie
geliebt!“ Funken leuchten aus seinen Augen, doch als sich die ganze Bedeutung der Worte in ihm ausbreitet, scheint er für Sekunden wieder mit der Wirklichkeit des Vergangenen verbunden zu sein und er
merkt, wie sich das Gebäude seines Traumes auflöst, wie eine Sandburg, die vom Meer verschlungen wird. „Schweigt, schweige, Schwester.“ „Wenn ich sterbe, werdet ihr dann eurem Herzen Vergebung
schenken?“ Das immer noch schöne Gesicht des Bischofs wirkt nun starr und eingefallen und sitzt wie eine Maske vor seiner Seele, fest verwachsen seit jener Zeit. Er sieht Franziska an und erkennt in
ihren müden, alten Augen immer noch das Strahlen des Lebens und er schützt sein Inneres.....